Magic Future Money - Geschichte Nr. 06

Von der goldenen Zeit

Von der goldenen Zeit

Tam lässt sich auf eine Bank fallen. Er atmet schwer. Vierzehn Kilometer in einer Stunde, das ist bisher seine beste Laufzeit. Die Anzeige an seinem Rucksack leuchtet grün und zeigt stolz 100 %. Die Batterien sind voll aufgeladen, das wird ihm für ungefähr eine Woche reichen. Die meisten Menschen in seiner Gemeinde verlassen sich nur auf die Sonnenenergie und lassen die Empfänger der Batterien-Zellen einfach in der Sonne liegen, wenn diese nicht benötigt werden. Er hingegen lädt regelmäßig seine Batterien durch das Laufen auf und nutzt hin und wieder zusätzlich die Sonnenenergie. Es fühlt sich richtig für ihn an, etwas zu erzeugen, was er verbraucht. Außerdem kommt es nicht nur ihm zugute, sondern auch der gesamten Nachbarschaft. Seine Nachbarschaft ist mit dem neuesten Straßenbelag ausgelegt. Jeder Schritt wird in Energie umgewandelt und gespeichert, diese wird dann in gemeinschaftlichen Bereichen genutzt. Und er genießt das Laufen. Er genießt es, Zeit für sich zu haben und allein zu sein. Seine Gedanken werden gelockert, er konzentriert sich nur auf sein Atmen. Es ist fast, als würden seine Gedanken mit seinem Laufschritt nicht mithalten können, sie fallen zurück und können ihn nicht einholen.

Er fühlt sich erschöpft, aber lebendig. Mit jedem Atemzug wird die Luft weicher, sein Puls wird ruhiger, das Trommeln in den Ohren leiser. Zwei Möwen ziehen hoch am Himmel lautlos ihre Kreise, wendig und elegant spielen sie mit dem Wind. Möwen sind Überlebenskünstler. Sie sind nicht wählerisch, sie leben dort, wo sie sich niederlassen. Manch andere Arten haben diese Gabe nicht. Nicht jeder ist so anpassungsfähig und wendig.

„Tam, wie geht’s dir? Guter Lauf?“ Sein ehemaliger Nachbar aus dem zweiten Stock bleibt neben der Bank stehen, auf der Tam sitzt und begrüßt ihn lächelnd. Tam ist in seine Gedanken vertieft und braucht einige Sekunden, um ihn zu erkennen.

„Tes, hallo! Ja, ein super Lauf. Meine Bestzeit. Ein guter Tag zum Laufen“, antwortet Tam und lächelt zurück. Er rutscht zur Seite, um Platz auf der Bank zu machen und stellt seinen Rucksack auf den Boden. Tes betrachtet ihn eine Weile, nickt ein paar Mal, lenkt seinen Blick dann vor sich in die Ferne und nach oben zu den Möwen. Er macht keine Anstalten, sich setzen zu wollen, verlagert sein Gewicht nur von einem Bein auf das andere, ein Knie leicht eingedrückt.

„Gut, gut. Langsam steigern und nicht vergessen zu dehnen. Aber du bist fit, du weißt schon, was du tust.“ Tes hatte früher Sportkurse geleitet und ist selbst noch sehr fit, jetzt übernimmt er hauptsächlich Fitnesskurse für die ältere Generation in der Gemeinde. Er und seine Frau sind vor Kurzem in eine andere Nachbarschaft gezogen, er lässt es sich aber nicht nehmen, jeden Tag seinen Spaziergang hier zu machen.

„Ein schöner Tag, nicht?“, lächelt er und wendet sich wieder Tam zu.

„In der Tat, ja, ein wirklich sehr schöner Tag“, antwortet Tam, und lehnt sich mit dem Rücken gegen die Bank. Tes nickt noch ein paar Mal vor sich hin. Er legt seine linke Hand sachte auf die Rückenlehne der Bank und tätschelt diese behutsam. Dann geht er weiter seinen Weg. Tam schaut ihm kurz hinterher und dreht sich wieder nach vorne. Vor ihm liegt das Innenmeer. Wellen spielen zaghaft mit der Anlegestelle, klettern an der kleinen Wand hoch nur um sich rückwärts wieder in das Wasser fallen zu lassen. Sie hinterlassen eine dunkle Markierung, eine vage Erinnerung und Orientierung für die nächste Welle. Ein unendliches Spiel, sie haben ihren eigenen Rhythmus, dem sie folgen. Und doch verändern sich die Wellen nie. Er schließt seine Augen, nimmt einen tiefen Atemzug und stellt sich vor, er könne das Meer riechen. Der salzige Geruch des Außenmeeres reicht nicht bis hierhin. Seine Nachbarschaft liegt auf einer der Inseln in der Mitte des Gemeinderinges von Zone 1, umgeben von anderen Inseln der Gemeinde. Eine Insel beherbergt vier Nachbarschaften und die meisten Inseln sind genauso groß wie seine. Jede Insel hat ihr eigenes kleines Versorgungszentrum, das den täglichen Gebrauch deckt. Wenn sie größere Sachen benötigen, bestellen sie es bei der Verwaltung und es wird entweder geliefert oder sie holen es von der Hauptgemeindeinsel. Dort finden auch alle Gemeindetagungen statt, so wie die Tagung heute Vormittag. Bei den wöchentlichen Tagungen ist es jedem freigestellt, ob er hingeht. Nur die monatlichen Tagungen sind Pflichtveranstaltungen, zu dieser Zeit findet kein Dienst und keine Schicht statt. Es wird viel Wert daraufgelegt, dass jeder informiert ist und wenn jemand etwas vorbringen möchte, meldet er sein Vorliegen an.

Die Gemeindehalle ist groß genug, dass alle Gemeindemitglieder und noch einige Leute mehr darin Platz haben. Dort spielt sich das Kulturleben ihrer Gemeinde ab. In der aktiven Zeit finden Konzerte und Theaterstücke statt und manchmal auch Hologramm-Veranstaltungen, die letzteren sind weitaus seltener und nicht so beliebt. Da sie selbst kaum Künstler haben, laden sie häufig Künstler aus anderen Gemeinden ein. Er liebt den Trubel, wenn bekannt wird, dass Künstler zu Besuch kommen. Alle sind aufgeregt und stellen sicher, dass alles herausgeputzt ist. Häufig wird auch von ihrer Gemeinde ein Festessen für alle zur Begrüßung der Gäste organisiert. Sie stellen sicher, dass sie Obst und Gemüse anbieten, dass die Gäste bei sich nicht anbauen. So ein Festessen gab es schon längere Zeit nicht mehr, sie befinden sich in der Ruhezeit. In dieser Zeit werden Reisen zwischen den Gemeinden nur im äußersten Notfall genehmigt. Der Ring um die Gemeinde ist abgesperrt und kann nicht überquert werden, die Unterwasserbahn ist stillgelegt. Sie können innerhalb des Gemeinderinges reisen, aber für alle Außen-Besuche wird das Hologramm-Reisen genutzt. Es ist nicht dasselbe, wie sich richtig zu sehen, aber ist auch um einiges bequemer. Einen Monat dauert es noch, bis die aktive Zeit beginnt. Fünf Monate Ruhezeit sind vergangen und man merkt regelrecht, wie die Welt stiller und stärker geworden ist. Er freut sich schon, wenn das aktive halbe Jahr wieder beginnt. Bald kann er seine Reise zu seiner Verlobten Lina beantragen. Sie lebt in einer anderen Gemeinde und sie können sich in der Ruhezeit ebenfalls nicht besuchen. Das war die letzte Ruhezeit, die sie getrennt voneinander verbracht haben. Vor einer Weile haben sie einen Antrag gestellt, zusammenzuziehen und dieser sollte bald genehmigt werden. Würden sie in derselben Gemeinde leben und wäre Lina nicht studierende Ärztin, wäre es um einiges einfacher. In ihrem Fall müssen die Gemeinden entscheiden, wo sie Lina in erster Linie einsetzen und weiterstudieren lassen können, und diese Gemeinde muss auch eine Wohnung zur Verfügung haben. Es ist viel Planung, deswegen dauert es eine Weile. Doch dank dieser Planung hat jede Gemeinde genug spezialisierte Leute. Mit ihm ist das einfacher, er ist überall einsetzbar. Er hat viele unterschiedliche Dienste und Schichten geleistet und ist nicht wählerisch, solange er beschäftigt ist und eine gute Abwechslung hat. Es gibt wenige Spezialisierungen, für die man studieren muss, bevor man Dienste übernehmen darf. Die meisten Leute verändern ihre Spezialisierung nicht, sie sind angekommen. Schichten hingegen sind dafür da, um einen neuen Bereich kennenzulernen. Das benötigte Wissen wird in der Schicht vermittelt. Meistens werden diese recht kurzfristig gesucht oder unregelmäßig ausgeführt. Es ist ein guter Einstieg in einen Bereich, in dem man keine oder kaum Erfahrung hat oder einfach nur etwas zu tun haben will. Manche Leute sind vollkommen zufrieden damit, immer nur Schichten zu leisten, sie lieben die Abwechslung und die Flexibilität. Diese Leute sind sehr beliebt, denn sie haben viel Erfahrung in den verschiedensten Bereichen und sind unheimlich schnelle Lerner. Dienste hingegen sind langfristige Abmachungen. Es ist keine Spezialisierung, aber man hat sich ein gutes Wissen angeeignet und meldet sich für eine bestimmte Dauer dafür an. Tam hat in dem letzten Jahr seinen Dienst überwiegend im Ausbildungsbereich geleistet. Bis auf Weiteres hat er sich freiwillig für alle Vergangenheitskurse gemeldet. Er hat selbst mitbekommen, wie verstörend die Vergangenheit sein kann. Der Kopf- oder Ego-Virus, wie viele ihn nennen, setzt sich schnell fest. Grundsätzlich ist dieser nicht ansteckend, doch er kann sich bei zu viel Kontakt mit einem Infizierten auf andere übertragen. Dieser Virus ist eine unangenehme Sache, man lebt sein Leben in einer Illusion, hat jegliche Freude am Leben verloren und jagt Hirngespinsten hinterher. Es löst eine unterliegende Unzufriedenheit im Körper aus, dass den Betroffenen an allem und jedem zweifeln lässt, sogar an der Familie, den Freunden und an seinem eigenen Leben. Er weiß, es kann jeden treffen und das ist das Gefährliche daran. Bis vor einem Jahr kannte er niemanden, der sich damit infiziert hatte. Es gab Geschichten und Gerüchte, aber er hatte nie damit gerechnet, mit dem Virus in Berührung zu kommen. Doch seit einem Jahr ist alles anders und er hat es sich als Aufgabe gemacht, diese Kurse so weit wie möglich selbst durchzuführen. Er ist überzeugt, er sei immun und gibt diese Immunität an die Schüler weiter, wenn er ihnen alles genau erklärt und keinen Raum für Spekulationen offenlässt. Unwissen und Furcht nähren diesen Virus. Nach den Kursen macht er noch eine Schicht im Versorgungszentrum und packt die bestellten Versorgungskörbe. Diese werden den Leuten zur Abholung bereitgestellt oder direkt an die Haushalte von den Lieferschichten verteilt. Er liebt diese Schicht, es gibt ihm ein gutes Gefühl an der Versorgung seiner Gemeinde beteiligt zu sein.

Mit ein paar Mal blinzeln kehrt er wieder zurück in die Realität. Die Sonne brennt. Immerhin geht ein kleiner Abendwind, der die Hitze erträglich macht. Seine Klamotten strahlen eine angenehme Kühle über seine Haut aus. Der starke Kontrast zwischen Hitze und Kühle jagt ihm einen Schauer über die Haut. Es ist Zeit, nach Hause zu gehen. Mit Schwung steht er von der Bank auf und greift seinen Rucksack, den er über eine Schulter wirft. Er ist fast einmal im Kreis um seine Nachbarschaft gelaufen und sieht seine Wohnung von hier. Automatisch sieht er auf seinen Jackenärmel, er hat mehrere Nachrichten erhalten. Lina hat versucht ihn zu erreichen. Wieder blinzelt er, um seine Aufmerksamkeit zu fangen und sie auf die Nachrichten zu lenken. Er überfliegt kurz die Nachrichten – zwei weitere Anmeldungen für seinen Kurs später, eine Zusammenfassung der Gemeindetagung heute Vormittag und die Auswertung seines Laufes. Die Nachricht von Lina möchte er sich zu Hause ansehen. Für einen kurzen Moment bleibt er stehen, dreht sich um und sieht in die Ferne, zwischen den kleinen Inseln, die sein Zuhause formen. Am weit entfernten Horizont ist weit und breit nichts zu sehen. Der Streifen zwischen Himmel und Wasser ist glatt und starr, eine klare Linie wo das Wasser aufhört und der Himmel anfängt.

Die Haustür schiebt sich zur Seite auf und Tam betritt das Gebäude. Er benötigt keinen Schlüssel. Das System des Hauses erkennt ihn automatisch, berechnet seine Entfernung und Schrittlänge und öffnet ihm die Tür im richtigen Moment – alles ist ein fließender Übergang. In dem Haus ist es angenehm kühl. Die Lüftung in allen Häusern wird von der gemeinschaftlichen Energie betrieben. Er schreitet durch den Eingangsflur, die Tür zum Fahrstuhl wird geöffnet und schließt sich hinter ihm. Es geht drei Stockwerke hoch, bis der Fahrstuhl ihn direkt in seine Wohnung bringt. Das Haus hat insgesamt sechs Stockwerke, die maximale Höhe, die ein Haus gebaut werden darf. Jedes Stockwerk hat eine Wohnung und jede Wohnung ist gleich aufgebaut – ein Schlafzimmer, Badezimmer und ein großer Wohnbereich mit Küche. In seinem Haus leben ein oder zwei Menschen pro Wohnung. Familien haben größere Wohnungen und leben in anderen Bereichen der Nachbarschaft, damit Kinder mit anderen Kindern aufwachsen. Die Einrichtung ist überall gleich. Wohnbereiche und Schlafzimmer sind große, leere Räume, alle Möbel werden eingefahren, wenn sie nicht benötigt werden. Sie können zwischen verschiedenen Modellen wählen, alle Möbel sind beliebig erweiterbar und das Design ist eine Projizierung. Wenn er alleine ist, fährt er immer nur einen kleinen Esstisch heraus und wenn er Besuch bekommt, tippt er die Personenanzahl ein und ein entsprechender Tisch wird aufgebaut. Jeder Wohnbereich hat eine große Fensterfront und in seinem Haus ist diese zur Garteninsel ausgerichtet. Die Kuppel des Gartens ragt stolz in die Höhe mit ein paar grünen Kronen, die gegen die Kuppel drücken. Das Obst und Gemüse, was dort angebaut wird, versorgt die Gemeinde und wird von dort in die Versorgungszentren gebracht. Auf der Insel werden auch andere Nahrungsmittel hergestellt und ständig erforscht. Fleisch und Proteinpulver werden immer weiterentwickelt und gibt es inzwischen in den unterschiedlichsten Geschmacksvariationen. Diese Insel ist das Herz ihrer Gemeinde, ohne diese Insel würden sie nicht überleben.

Er entfernt die Batterien aus seinem Rucksack und platziert diese vorsichtig in die Dockingstation. Leise Musik erklingt und weiches Licht erstrahlt das Zimmer, draußen fängt es langsam an zu dämmern und das optimale Licht erhellt den Wohnbereich. Die Anzeige an seinem Hologramm-Portal leuchtet orange, jemand wollte ihn besuchen und hat eine Nachricht hinterlassen. Er erinnert sich an die Nachricht von Lina, die er noch nicht gesehen hat. Mit einem Fingerdruck auf seinen Jackenärmel erscheint ihr Bild vor ihm.

„Hallo Tam, dein Portal war geschlossen, deswegen probiere ich es hier, aber du scheinst beschäftigt zu sein. Na ja, melde dich bei mir, wenn du wieder da bist. Komm am besten noch vor deinem Kurs vorbei, ja?“ Klick, und das Bild ist verschwunden.

Tam schmunzelt, sie ist einfach immer besorgt. Als würde sie erwarten, etwas Schlimmes müsste jeden Moment passieren. Wahrscheinlich ist sie deswegen Ärztin geworden oder vielleicht ist es eine Angewohnheit, weil sie Ärztin ist. Wie auch immer, es ist ein schönes Gefühl, dass sie sich kümmert, selbst wenn es manchmal etwas zu viel ist. Und wenn sie dann erst zusammenleben, kann er immer laufen gehen, wenn sie wieder ihre Sorgenmomente hat, denkt er und grinst. Er prüft die Nachricht in seinem Hologramm-Portal. Wie erwartet hat er einen verpassten Besuch von Lina und eine gespeicherte Nachricht. Er öffnet die Nachricht von Lina, dieselbe Nachricht wie die andere, er soll sich melden, wenn er wieder da ist. Er löscht die Nachricht und geht duschen. Er möchte noch für ein paar Momente allein sein und zur Ruhe kommen, bevor er mit ihr spricht und sich auf den Kurs vorbereitet.

Das Duschen hat ihn zutiefst entspannt. Es klingelt nur einmal, bevor Lina das Portal freischaltet. „Tam“, Linas Bild erscheint vor ihm, ihr strahlendes Lächeln lässt sein Herz kurz zusammenzucken und er vermisst sie mit einem Schlag, obwohl sie vor ihm steht. Sie umarmt ihn, selbst wenn man durch das Hologramm-Bild nichts spürt. Das macht sie immer.

„Wie geht es dir?“, fragt sie in ihrem Ärzte-Ton.

Er lächelt sie an. „Gut, sehr gut. Ich war joggen, die Energie in der Wohnung war niedrig und ich brauchte Bewegung. Wie geht es dir?“

Er verschweigt ihr, dass die Energie in seiner Wohnung nicht niedrig, sondern komplett auf null war, bis er sich wieder zusammengerissen und darum gekümmert hatte. Sie schaut sich interessiert in seiner Wohnung um. Als er das merkt, folgt er nervös ihrem Blick. Ich hoffe, ich habe nichts herumliegen lassen, geht es ihm durch den Kopf. Sie nickt so knapp, dass man es in dieser Millisekunde von Moment kaum wahrnimmt und lächelt ihn wieder strahlend an.

„Tam, sehr gut. Mein Tag heute war super, ich habe viele neue Sachen gelernt. Und Liw ist so eine große Hilfe.“

Liw ist ihr zwei Jahre älterer Bruder und studiert mit ihr zusammen. Beide wollen Ärzte werden und unterstützen sich beim Lernen. Tam und Liw haben in ihrer Jugendzeit einen Gemeinde-Austausch mitgemacht und sind seither gut befreundet. So haben sich Tam und Lina kennengelernt, selbst wenn es viele Jahre gedauert hat, bis sie sich ineinander verliebt haben.

Lina erzählt aufgeregt von ihrem Tag und er versucht krampfhaft, ihr zu folgen, doch seine Gedanken schweifen ab. Er denkt sich Szenarien für den Kurs heute Abend aus und geht mögliche Fragen und Antworten durch. Plötzlich hört Lina auf zu erzählen, schaut ihn fragend an und er fühlt sich ertappt. Er weiß, dass sie weiß, er hat ihr nicht zugehört. Sie weiß immer alles. Anstelle etwas zu sagen, schauen sie sich eine Weile an, sie seufzt und wiederholt ihre Frage.

„Tam, sehen wir uns nach dem Kurs, ja?“

Er nickt, lächelt und antwortet leise. „Okay. Sehen uns später.“

Sie lächelt ihn an, winkt kurz, wirft ihm eine Kusshand zu und verschwindet. Er ist wieder allein in seiner Wohnung und starrt sein Hologramm-Portal an.

Genau ein Jahr ist es her, dass er das letzte Mal von seinem Freund Lex gehört hat. Er weiß nicht, wo er ist, und sein Verschwinden brachte ihn anfangs an den Rand des Wahnsinns. Die Gemeinden nehmen einen Virus-Ausbruch sehr ernst. Soweit bekannt wird, dass jemand den Virus hat, wird dieser sofort aus der Gemeinde entfernt und in Schutz-Programme aufgenommen. Sie werden aus den Gemeinden ausgegliedert, sind nicht mehr Teil des Dienstsystems und dementsprechend nicht mehr Teil des Versorgungssystems. Die Betroffenen sind auf sich gestellt. Tam kann sich nicht vorstellen, wie man allein überleben soll. Die Gemeinden wissen dennoch immer, wo die Betroffenen sind, Daten werden durch ihre Tracker übermittelt. Jeder von ihnen hat einen Tracker am Körper. Sie machen das gesamte Leben einfacher. Die Gesundheitswerte werden darüber gemessen und an Ärzte übermittelt. Wenn etwas mit den Werten nicht stimmt, wird man von einem Arzt kontaktiert und untersucht. Man weiß, ob man etwas an seiner Ernährung umstellen muss. Die Tracker werten den Körper-Haushalt aus und zeigen an, ob man Mangelerscheinungen hat. Außerdem wird der ganze Alltag über die Tracker gespeichert, wann und wo man seine Schicht oder seinen Dienst geleistet hat zum Beispiel. Sein Freund Lex ist jedoch wie vom Erdboden verschluckt worden. Sie haben ihn wochenlang gesucht, niemand hat eine Spur von ihm gefunden. Seine letzte Übermittlung war eine Hologramm-Nachricht zu Tam. Lex war in seiner Wohnung, das waren die letzten Daten. Es ging ihm gut, seine Gesundheitswerte waren normal. Tam kann sich nicht vorstellen, dass jemand mitbekommen hat, dass Lex das Virus hatte. Er hatte mit niemandem darüber gesprochen. Und doch, wie kann es in ihrer Welt passieren, dass ein Mensch verschwindet und unauffindbar ist? Es gibt zwei Wege aus seiner Wohnung, die Tür und die Fenster. Egal welchen Weg Lex gewählt hätte, beides wäre auf einer Kamera erschienen. Sie haben alle Daten abgeglichen. Er hat die Datenübertragung von Lex beim Gemeinderat gesehen, sie sind von einer Sekunde auf die andere ausgeblieben. Zu dieser Zeit war niemand in seiner Wohnung, bis auf Lex. Seine Nachbarn waren in ihren Wohnungen und haben nichts Merkwürdiges gesehen oder gehört. Lex hat seine Wohnung angeblich nicht verlassen und doch war diese leer, kein einziger Hinweis, niemand hat ihn gesehen. Es war auch Ruhezeit, das heißt, selbst wenn er seinen Tracker irgendwie hat ausschalten können, und diese haben solch eine Funktion nicht, hätte er die Gemeinde nicht ohne Weiteres verlassen können. Die Suche ist nun endgültig eingestellt und Lex wurde aus dem System ausgegliedert. Sie haben ihn nicht nur ausgegliedert, sondern sterben lassen. So ein Fall ist bisher nicht eingetreten und alle waren ratlos, manuell im System sterben lassen schien am einfachsten. Ausgliedern würde heißen, sie würden für ihn noch Daten empfangen. Tam schaut sich ab und zu noch die Nachricht von seinem Freund an, um nach Hinweisen zu suchen. Vielleicht hat er etwas übersehen oder vielleicht hat Lex eine versteckte Nachricht hinterlassen, doch auch nach einem Jahr findet er keine neuen Hinweise. Es schmerzt noch immer, diese Nachricht zu sehen. Er kann es jedoch nicht sein lassen. Diese Sehnsucht nach der alten Zeit mit seinem Freund ist überwältigend.

In seiner letzten Nachricht hatte Lex ihn erneut versucht zu überzeugen, dass sie in einer anderen Welt leben könnten. Eine Welt, in der sie frei sein könnten. Sie könnten nach den Regeln der alten, der richtigen, Welt leben. Sie könnten ohne Genehmigungen reisen, sie könnten Arbeit gegen Geld tauschen und nicht wertlose Dienste und Schichten ableisten und von den Versorgungszentren alles zugewiesen bekommen. Er hatte sich mit den Worten verabschiedet, dass er Tam bald wieder kontaktieren wird. Das war vor genau einem Jahr.

Alles fing damit an, dass Lex Vergangenheitskurse übernommen hat, weil sich niemand für die Schicht gemeldet hatte. Lex hatte so sehr Gefallen daran gefunden, dass er Tam überzeugt hatte mitzumachen. Sie haben die Kurse abwechselnd geführt. Es ist eine wichtige Institution in der Gemeinde, aber verlangt einem auch viel ab. Ab und zu besuchten sie gegenseitig ihre Kurse, um zu lernen und sich auszutauschen. Irgendwann änderte sich der Erzählstil von Lex. Er sprach positiver über die Vergangenheit und bezeichnete es als die goldene Zeit. Tam war zutiefst besorgt und konfrontierte Lex. Es war eindeutig, dass Lex das Virus hatte. Er sprach leidenschaftlich und fieberhaft über alles, was ihnen entgehen würde, dass sie Tag und Nacht überwacht und dass die Gemeinschaft ihrem eigenen Glück im Weg stehen würde. Früher hätte man noch seine Freiheit gehabt, um tun zu können, was man wollte und konnte sein eigenes Glück verfolgen. Er wüsste einen Weg hinaus, sie könnten alle zusammen hier weg und ein neues Leben anfangen, in Freiheit. Tam wollte sich nur die Ohren zuhalten und lauthals schreien, damit er nichts von diesem Unsinn anhören musste. Doch es war sein Freund, er wollte ihn nicht im Stich lassen, selbst wenn es klar war, dass das Virus zu weit vorgedrungen war. Er bewegte sich sehr vorsichtig, als würde er Angst haben, ein wildes Tier zu erschrecken. Tam wollte ihn zu Bewusstsein zurückbringen, seinem Freund klarmachen, dass seine Gedanken eine reine Illusion seien. Sie leben ein gutes und glückliches Leben, die Vergangenheit ist vergangen, ihr Leben ist frei und im Sinne einer Gemeinschaft, die sich umeinander sorgt. Das Einzige, was Lex mit seinen Worten erreichen würde, ist ausgegliedert zu werden. Er solle nach Hause gehen und zur Ruhe kommen. Vielleicht sollte er ein paar Dienste aussetzen oder andere Schichten ausprobieren. Bald wäre auch die Ruhezeit vorbei, dann können sie wieder reisen. Das feurige Glühen in den Augen von Lex war erloschen. Er nickte und starrte Löcher in den Boden. Tam war zufrieden mit sich selbst, er ist ruhig geblieben und hat seinen Standpunkt vertreten, er hat seinem Freund geholfen. Doch Schweigen hat viele Gesichter. Sie haben sich umarmt und verabschiedet, Lex ist nach Hause gegangen, Tam zu seiner Schicht in das Versorgungszentrum. In der Zeit dazwischen hat Lex seine letzte Nachricht hinterlassen und das war das letzte Mal, dass Tam von seinem Freund gehört hatte. Wenn er doch nur wüsste, was passiert ist. Wie konnte er ihn allein lassen.

Das Portal leuchtet gelb auf und reißt ihn aus seinen Erinnerungen. Der erste Schüler ist im Warteraum. Tam blinzelt, schüttelt seinen Kopf, um die Gedanken loszuwerden. Insgeheim freut er sich auf seine Schicht später im Versorgungszentrum, es fällt ihm heute besonders schwer, sich auf den Kurs zu konzentrieren. Draußen ist es dunkel geworden. Die Lichter tanzen fröhlich durch die Dunkelheit und erheitern die Welt. Ein paar Leute legen mit Wasser-Fahrzeugen an der Anlegestelle an und machen sich auf den Heimweg. Langsam stellt er in seinem Hologramm-System die benötigten Parameter ein, um die letzten drei Jahrhunderte als Sequenz abspielen zu können. Einzelne Bilder und Geschichten zu Menschen, die an der neuen Welt mitgewirkt haben, werden sorgfältig sortiert und in Wartehaltung gebracht. Nachdem alles eingestellt ist, findet er sich in einer fremden Welt wieder. Er tippt auf seinen Jackenärmel und die Schüler werden aus dem Warteraum hereingelassen. Er begrüßt sie mit einem Kopfnicken, stellt sich kurz vor und wartet ein paar Minuten, bis sich die Schüler umgesehen haben. Sie staunen über diese andere Welt. Die Geräte, die überall klobig im Raum herumstehen und die Leute mit ihrer unfunktionellen Kleidung sehen so anders aus. Ein junger Mann sticht besonders heraus, dieser rennt aufgeregt hin und her. Tam betrachtet ihn mit einem stolzen Lächeln und stellt ihn vor.

„Das ist Mike, er wurde im Jahr 2000 geboren. Sein Sohn Sam wurde am Tag des zweiten Adams Event geboren. Sam hat den ersten Entwurf für Zone 1 erstellt. Ich bin sehr stolz darauf, denn er ist mein Vorfahre. Meine Familie war einer der ersten, die sich in Zone 1 angesiedelt hat und wie ihr seht, lebe ich immer noch hier. Ich bin dankbar, dass er den Mut hatte, einen neuen Weg zu gehen. Er und andere mutige Menschen haben allen Widerständen getrotzt, in einer Welt, die plötzlich auf dem Kopf stand. Die ganze Welt ist von einem Tag auf den anderen im Chaos versunken. Sein ganzes Leben hat er darauf ausgerichtet, unsere friedliche Welt von heute zu erschaffen. Seine Gruppe und er haben sich zum Ziel gemacht, gemeinschaftliche Wertvorstellungen in den Vordergrund zu stellen. Das Belohnungssystem, welches vor ihrer Generation alles geregelt hatte, hatte die Menschen ungesund und unglücklich gemacht, und nicht nur die Menschen, sondern auch die Natur. Sie haben unsere Welt nach gesunden Idealen aufleben lassen. Ohne ihre Vision wären wir heute nicht hier. Deswegen handelt nicht nur nach euren Idealen, sondern handelt mit dem Gedanken, in was für einer Welt wollt ihr eure Kinder und Enkelkinder aufwachsen lassen? In was für einer Welt, wollt ihr eure Eltern und Großeltern ihre Alterszeit genießen lassen? Handelt so, als wäre diese Zeit bereits da. Wenn ihr das versteht, dann seid ihr auf dem richtigen Weg. Wir können nur glücklich sein, wenn wir friedlich miteinander leben und füreinander handeln. Sei ein Vorbild für andere, sei ein Vorbild für dich selbst.“


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