Magic Future Money - Geschichte Nr. 07

Wie viel ist sie Ihnen wert, Professor?

Wie viel ist sie Ihnen wert, Professor?

„Ihnen bleiben noch drei Stunden Zeit, um die Rechnung der Nanoroboter-Behandlung ihrer Ehefrau zu begleichen“, blinkte die Nachricht der Krankenhaus-App in seinen Gedanken auf.

Drei Stunden, das sind nicht annähernd genügend Zeit, um Gedanken und Erinnerungen zu generieren, die zur Tilgung der Summe reichen. Und das trotz der Tatsache, dass mehrere meiner Ideen in den letzten Jahren zu Nominierungen für den Nobelpreis geführt hatten. Doch es hatte nie gereicht. Etwas das ich bis an mein Lebensende bereuen werde. Ich werde die Bezahlung mit meinen älteren Gedanken und Erinnerungen tätigen müssen. Aber auf welche kann ich verzichten? Auf welche will ich verzichten.

„Wird die Summe nicht innerhalb der nächsten drei Stunden getilgt, so werden wir die Pfändung in die Wege leiten.“ In einem Winkel seiner Gedanken wurde der Countdown in Gang gesetzt.

Pfändung.

Er schluckte.

Das würde bedeuten, dass die KI des Krankenhauses selbst dazu berechtigt wurde in seinem Gehirn zu wühlen und auszusuchen was sie für diese Summe als angemessen erachtete.

Nein, soweit darf es nicht kommen. Wenn ich schon Teile meiner Gedanken dafür opfern muss, so will ich zumindest selbst die Entscheidungsgewalt darüber haben, um welche es sich handelt. Ihr kann ich die Bezahlung nicht zumuten. Nicht nach all dem, was sie mit der Krankheit und in der Behandlung durchgemacht hat. Ich werde die Kosten ihrer Behandlung alleine tragen. Schließlich habe ich ihr versprochen, dass ich mich darum kümmere, dass alles gut wird.

Er hatte noch nie ein Versprechen gebrochen; jedenfalls nicht, soweit er sich erinnerte.

Es war möglich, ja durchaus wahrscheinlich, dass er das ein oder andere vergessen hatte. Was ihn bei der Art der Bezahlung heutzutage auch nicht weiter verwunderte.

Welche Gedanken kann ich opfern? Welche sind entbehrlich? Erinnerungen an die Kindheit oder doch nur die an das Essen letzte Woche? Und welche davon sind unweigerlich ein Teil dessen was mich ausmacht? Was davon hat mich wohl am stärksten geprägt? Ich könnte wohl damit leben meine Gedanken und Erinnerungen zum neusten Film zu verlieren und ihn zusammen mit ihr noch einmal zu sehen, aber diese würden für die Tilgung kaum ausreichen.

Kaum gedacht, so leitete er auch schon die Bezahlung mit diesen Gedanken in die Wege.

„Sie sind sich der Risiken und Konsequenzen des Bezahlvorganges bewusst und im Vollbesitz Ihrer körperlichen und geistigen Kräfte?“, blinkte die App und zeigte einen Link zu den Informationen über die Risiken.

Er schmunzelte.

Im „Vollbesitz seiner geistigen Kräfte“. Wer in dieser Gesellschaft ist das denn noch?

Die App zeigte eine chronologische Liste aus Erinnerungen.

Erinnerungen nach Kategorien ordnen.

Die als Blasen dargestellten Gedanken änderten ihre Farben, teilten sich oder fügten sich zusammen. Erinnerungsblasen lösten sich aus der geordneten Aufreihung flogen in alle Richtungen davon und häuften sich entsprechend ihrer Kategorie im dreidimensionalen Gedankenraum in Clustern nach selbstgewählten Oberbegriffen an.

Dann wähle ich mal ein paar aus der Unterhaltung-der-letzten-zwei-Jahre Kategorie aus. Meine Gedanken zur neusten Ärzte-Soap. Und die Erinnerungen zum ein oder anderen Buch. Ich sollte die Erinnerung an die Titel, die mir besonders gefallen haben und, dass ich diese Bücher noch lesen will, behalten – aber wie hießen die noch gleich?Erinnerungen an das Wetter von letzter Woche, dem peinlichen Essen mit den Schwiegereltern vor einigen Monaten, dem Kaffeetratsch der Kollegen, soweit er nicht für die Arbeit wichtig ist.

„Sind Sie sich sicher, dass Sie die ausgewählten Erinnerungen für die Bezahlung verwenden wollen? Nach der Bestätigung dieser Nachricht sind diese unweigerlich für Sie verloren“, meldete die App.

Er bestätigte. Gedankenblasen platzten und zerfielen in kleine funkelnde Punkte und verschwanden schließlich vollständig.

Die App zeigte den Fortschritt des Bezahlvorganges an.

Es sind 95 Prozent der Summe in den verbleibenden zwei Stunden 30 Minuten zu begleichen.

Es war mir klar, dass die Gedanken eines Menschen zu den neusten Filmen, Büchern und Tratsch nicht besonders viel wert waren, aber das war noch viel weniger als angenommen. Und dafür diese wertlosen Gedanken auszusuchen habe ich eine halbe Stunde verschwendet? Einfach unfassbar!

Er wies die App an seine thematisch geclusterten Gedanken nach hervorgerufenen Emotionen zu sortieren. Die verschiedenfarbigen Blasen eines Clusters, die Gedanken darstellten, die mit einer starken Emotion verbunden waren, begannen in unterschiedlichen Rhythmen zu blinken. Die Cluster für Arbeit, Schule, Familie fielen ihm sofort ins Auge.

Schule, negative Erinnerungen aufrufen.

Die App zoomte auf den Cluster mit Gedanken und Erinnerungen seiner Schulzeit und hob einige der kleineren Cluster und Blasen hervor. Die Erinnerungen an ein verpatztes Referat und die vermasselte Hausarbeit in Naturwissenschaften leuchteten gleichmäßig hell.

Wie sehr ich mich seither verändert habe. Damals hatte ich keinen Schimmer und heute werde ich für den Nobelpreis nominiert. Nur nominiert.

Ihm zog sich der Magen zusammen.

Diese Hausarbeit war ausschlaggebend für meinen Werdegang, denke ich zumindest. Diese Erinnerung behalten.

Er markierte die Erinnerung als „Favorit“, um sie vor versehentlichen Löschungen zu schützen.

Dass mir dieser Fehler einmal so wichtig werden würde.

Er schmunzelte. Ein schnell blinkender Erinnerungscluster stach aus der Masse hervor.

Schauen wir uns das mal näher an. Erinnerungen an den Schulhofrüpel, der sich über mich lustig gemacht hat, weil ich so viel lese. Warum habe ich die nicht schon längst für irgendeine andere Transaktion verwendet? Sprit für mein Jetpack davon gekauft, oder Kinokarten?

Er zuckte mit den Schultern.

Dann vergesse ich den Kerl eben jetzt.

Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

„Bezahlung erfolgt. Es sind 81 Prozent der Summe in den verbleibenden zwei Stunden fünf Minuten zu begleichen“, zeigte die App.

Wenn ich so weitermache, werde ich die volle Summe nicht vor Ablauf der Frist bezahlt haben. Vielleicht sollte ich einfach noch weitere Leute vergessen. Menschen, die ich vermutlich nie wieder sehen werde. Leute, die ich nur ein Mal getroffen habe. Wie wichtig kann eine Person für die Entwicklung des eigenen Ichs sein, an deren Existenz man sich kaum erinnert? Auch wenn ich diese Leute wiedersehe, so können sie das Vergessen durch eine Bezahlung wohl gut verkraften, es ist ja nicht so, dass Menschen sich vor der Umstellung auf diese Bezahlmethode immer an jeden erinnert hätten, und wer sollte ihnen davon erzählen, dass ich sie wegen einer Bezahlung vergessen hatte? Ich etwa, der sich nicht daran erinnern würde können? Nein, es ist alles gut. Solange ich sie nicht vergesse, ist mein Leben in Ordnung.

Erinnerungen nach dem Kennenlernen von Personen filtern und nach aufsteigender Häufigkeit des Antreffens und andersartigen Kontaktes sortieren, Zeitpunkt des Ereignisses anzeigen. Massenlöschung aller Erinnerungen an Personen, deren Häufigkeit unter fünf liegt und deren Kennenlernen mehr als drei Jahre in der Vergangenheit stattfand.

„Bezahlung erfolgt. Es sind 70 Prozent der Summe in den verbleibenden einer Stunde 45 Minuten zu begleichen“, zeigte die App.

Gut.

Weitere Massenlöschung veranlassen. Alle Erinnerungen an Personen, deren Häufigkeit unter zwölf liegt, löschen.

„Bezahlung erfolgt. Es sind 65 Prozent der Summe in den verbleibenden einer Stunde 30 Minuten zu begleichen“, zeigte die App.

So langsam wird es knifflig. Wie soll ich weitere Gedanken auswählen, die ich ohne weiteres vergessen kann, deren Wert für die Tilgung der Summe ausreicht, wo doch die wertvolleren Gedanken auch die sind, die ich behalten will? Erinnerungen mit starken Emotionen haben auch einen hohen Wert. Aber ich will nicht unser erstes Date vergessen, das erste Treffen mit meiner Frau, unseren Urlaub auf dem Mars.

Erinnerungen nach negativen Emotionen filtern und nach Stärke der Emotion absteigend sortieren.

Dann durchforste ich eben die tiefsten Abgründe meiner Erinnerungen.

Die Gedankenblasen sortierten sich erneut.

Es war ja klar, dass die Erinnerung an die letzte Nobelpreisbekanntgabe ganz oben stehen würde. Der Moment in dem mein Name nicht verkündet wurde. Der Augenblick der Schmach. Die Frustration darüber, dass die harte Arbeit, die darauf verwendet worden war, der Menschheit die physikalische Entdeckung zu bringen, die sie seit Jahrhunderten gebraucht hatte, nicht angemessen gewürdigt wurde. Mein Lebenswerk das mit Füßen getreten wurde. So wertvoll diese Erinnerung auch bewertet wurde. Will ich sie wirklich hergeben? Kann ich diesen Moment loslassen? Einen Moment, der mir so unglaublich wichtig ist? Ich kann es nicht. Noch nicht.

Er wand sich von diesem Gedanken ab und richtete seine Aufmerksamkeit auf die nächste Gedankenblase.

Mir war gar nicht klar, dass ich noch immer einen solchen Frust über die Leistung dieses Studenten mit mir herumtrage. Und das, obwohl ich seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm habe.

Er scrollte durch die Gedankenblasen. Wählte hier und dort eine mit Erinnerungen aus, die ihn nur frustrierten und in deren Festhalten er keinen Sinn sah.

„Bezahlung erfolgt. Es sind 30 Prozent der Summe zu begleichen. Einleitung der Pfändung in 20 Minuten“, zeigte die App.

Nur noch zwanzig Minuten. Wenn ich so auf die Menge der dargestellten Gedanken schaue, kommt es mir so vor als wären höchstens noch die Hälfte der Blasen von heute Morgen da.

Gedanken absteigend nach Wert sortieren und Anzeige des Wertes, befahl er der App. Die Liste baute sich erneut vor seinem inneren Auge auf.

Nobelpreisbekanntgabe, Hochzeit mit ihr, mein wissenschaftlicher Durchbruch, die Geburt unseres ersten Kindes, der Tag an dem ich meine Promotion verteidigt habe und der Marsurlaub in der darauffolgenden Woche. Einige als Favoriten gespeicherte Erinnerungen, die mein Wesen geprägt haben und deren Löschung vermutlich zu einer starken Änderung meines Ichs führen. Alles was mir jetzt noch bleibt sind die Gedanken an meine Arbeit und mein Leben mit ihr. Nichts davon kann ich einfach so leichtfertig vergessen. Ich habe alle Erinnerungen, die ich entbehren kann, bereits für die Bezahlung verwendet. Das darf nicht wahr sein.

Die App blinkte. Noch zehn Minuten bis zur Einleitung der Pfändung.

Kann ich Teile der Erinnerung an meine Arbeit verlieren, die sich mir logisch erschließen? Ich habe ja noch immer meine Notizen, die meine Arbeitskollegen mit einem „Es gibt tatsächlich Leute, die sich heute noch Notizen machen“ nur müde belächelt haben.

Er ballte die Hand zur Faust.

Genau das werde ich tun. Ich muss es tun. Mir bleibt keine Wahl. Sie zu vergessen oder eine komplette Erinnerung, die mit meinen Erfindungen einhergeht, kommt nicht in Frage. Wenn ich mich nicht mehr an meine Arbeit erinnern kann, nimmt uns das die Lebensgrundlage. Dann habe ich keine Gedanken mehr, die ich mit der Masse teilen kann, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Teilen, das ist es! Die App weist dem zwar wesentlich weniger Wert zu, aber ich könnte alle meine wissenschaftlichen Entdeckungen einfach mit dem Rest der Welt teilen.

Ausgewählte Bruchstücke der Gedanken zu meiner Arbeit löschen. Ändern des Bezahlmodus auf „Teilen der Gedanken“ wies er die App an. Sortieren der Gedanken nach Kategorie. Massenteilung aller Gedanken in der Kategorie „Arbeit“. Die nachfolgend gelisteten Gedanken sind durch eine Verschwiegenheitserklärung geschützt und konnten daher nicht geteilt werden. Einige der Gedanken auf der Liste wurden mit einem Stoppschildsymbol versehen.

Es verbleiben sieben Prozent der Summe. Einleitung der Pfändung in fünf Sekunden.“

Hoffnungslos. Alles hoffnungslos. Ich kann nicht in der verbleibenden Zeit einen meiner wichtigsten Gedanken auswählen.

Noch drei Sekunden bis zur Einleitung der Pfändung. Tränen stiegen ihm in die Augen und benetzten seine Wangen. Er schluchzte.

Seit Jahren habe ich mich nicht mehr so hilflos und klein gefühlt.

Es klopfte an der Tür zu seinem Arbeitszimmer.

„Schatz!“, drang ihre Stimme bis zu ihm vor, „Wie lange willst du dich noch in deinem Büro verkriechen?“

„Ich komm ja schon. Es gibt keinen Grund mich zu hetzen“, antwortete er und öffnete die Tür.

„Dein Frühstück steht auf dem Tisch. Vergiss nicht die Klausur um zehn“, sagte sie.

„Natürlich vergesse ich sie nicht. Meine Studenten brauchen doch schließlich eine Zensur. Aber wer sind Sie überhaupt und wie kommen Sie in mein Haus?“

„Jetzt sei nicht albern, Schatz.“, sagte sie.

„Bezahlvorgang abgeschlossen“, blinkte die App.