Der Sonnensturm
„Energieausgleich?“
Der Händler hielt Saturn das Päckchen hin und sah sie erwartungsvoll an.
Stumm nahm sie ihr Mittagessen an sich. Algensalat mit getrocknetem Insekten-Topping war nicht gerade ihr Lieblingsessen, aber es war nahrhaft und erschwinglich. In ihrer Kapsel, wie sie ihren zwei-Quadratmeter-Raum nannte, den sie zum wohnen, arbeiten und schlafen nutzte, gab es keine Kochmöglichkeit.
„Algora, Bitcoin, Cobbin, Dishy, Ester, Floorcoin …?“
Saturn hielt ihren ID-Chip vor das Zahlungsgerät. Erst heute Morgen hatte sie alle ihre Wallets gecheckt und einen neuen Sparplan eingerichtet. „Satoshi, bitte.“
Das Gerät blinkte kurz blau auf, wechselte zu rot und schaltete sich dann ganz ab.
„Das hat wohl nicht funktioniert“, stellte der Händler fest.
Saturn sah sich auf dem Marktplatz um. An den anderen Ständen schien es ebenfalls Probleme zu geben.
„Es gab vor drei Tagen einen starken Sonnensturm“, sagte der Händler, der ihrem Blick gefolgt war. „Sie haben in den Nachrichten gebracht, dass es sehr wahrscheinlich zu Ausfällen in der Elektronik kommt.“
„Haben Sie denn keine Akkus?“
Saturn merkte selbst, wie rau ihre Stimme klang. Dabei lag dies weniger an Nervosität als vielmehr daran, dass sie schon seit Tagen mit keinem menschlichen Wesen mehr gesprochen hatte.
Natürlich sorgte sie sich, wie sie ihren Job als Datenangestellte bei einem Stromausfall erledigen konnte. Aber das Gebäude, in dem sie lebte, hatte einen eigenen Generator. Dieser Markt anscheinend nicht.
„Wir waren heute Vormittag schon auf Akkubetrieb. Tut mir leid.“ Der Händler zuckte mit den Schultern. Auf seinem Gesicht lag ein ratloser Ausdruck. Er war ein Mensch, kein Roboter, wie inzwischen in vielen Geschäften.
Saturns Magen knurrte. Ein paar Straßen weiter gab es ein Restaurant, das seine eigene Energie produzierte und mit 24-Stunden-Strom warb. Alles dort lief automatisch ab, von der Bestellung und Bezahlung über die Zubereitung der Speisen bis zur Anlieferung an den vorgegebenen Sitzplatz.
Andererseits tat ihr der Händler leid, dem durch eine Laune der Natur ein Geschäft entgehen würde.
„Wie wäre es mit einer anderen Form des Energieausgleichs?“, fragte sie vorsichtig.
Ihr Gegenüber sah sie ratlos an.
Saturn trat auf ihn zu und legte ihre Hände auf seine Schultern. Der Händler begann zu zittern, blieb jedoch stehen, die Arme angespannt neben seinem Körper hängend.
Zum ersten Mal seit langem war Saturn froh, dass diese alte Technik in ihrer Familie über Generationen weitergegeben worden war. Sie fühlte, wie die Energie der Sonne in ihren Körper floss, sie wärmte und ihr Kraft gab und schließlich als weißes Licht durch ihre Handchakren in die Aura des Händlers strömte. Seine Schultern entspannten sich, sein Körper wiegte sich langsam wie in Trance.
Saturn konnte nicht sagen, wie lange der Energietransfer gedauert hatte, aber sie spürte, wie der Energiestrom nachließ und schließlich zum Erliegen kam. Sie wartete noch einen Moment länger und trat dann einen Schritt zurück.
„Das war … unbezahlbar.“ Mit einem glücklichen Lächeln, das sich über sein gesamtes Gesicht ausbreitete, bedeutete ihr der Händler, den Salat mitzunehmen.
Saturn lächelte ebenfalls und bedankte sich mit einem leichten Nicken.
Nahrung bedeutete Energie, genauso wie menschliche Wärme. Dieses naturwissenschaftliche Gesetz konnte kein Stromausfall unterbinden.