Magic Future Money - Geschichte Nr. 18

ROI

ROI

Roi wachte auf. Die automatische Heizung seines Bettes hatte sich vor wenigen Minuten ausgeschaltet. Da das Liegen nun mit jeder weiteren Minute unangenehmer wurde, stieg er aus dem Bett und ging duschen. Man gestattete ihm, wie eine Nummer in roten Ziffern an der Duschkabine anzeigte, am heutigen Tag zwanzig Liter warmen Wassers. Da warmes Wasser nicht für die kommenden Tage gesammelt werden konnte, duschte er, bis das Kontingent aufgebraucht war. Eine Tasse Kaffee hatte der vollautomatische Küchenautomat ihm derweil bereitet, ebenso zwei Scheiben leicht gerösteten Toast. Heute gab es ein süßes Frühstück, so freute er sich über einen wohlschmeckenden Aufstrich, den er allerdings nicht identifizieren konnte. Roi fühlte sich gestärkt und vollkommen ausgeruht. Das Licht in seiner Wohnkabine wurde heller, ein deutliches Zeichen dafür, dass er mit seiner Tagesaufgabe gleich beginnen sollte. Neben einem Tisch, einem einzelnen Stuhl, dem Bett und einer kleinen Ablage, auf der nichts stand, nahm ein heruntergeklappter Arbeitsbereich mit einem großen Bildschirm in Rois Wohnkabine den größten Platz ein. Eben jener Bildschirm schaltete sich gerade selbständig ein und begrüßte ihn mit dem Schriftzug:

„Guten Morgen ROI 237-01! Deine heutige Herausforderung wird ermittelt.“

ROI 237-01, so lautete sein vollständiger Name, um ihn von anderen ROIs zu unterscheiden. Er selbst benötigte diese Differenzierung allerdings nicht. Die Nummernvergabe hatte vor seiner Geburt stattgefunden und er konnte sich nicht daran erinnern, dass ihm das zugrunde liegende System jemals erklärt wurde. Oder er hatte es im Laufe der Zeit vergessen. Die Tagesaufgabe für ihn war ermittelt worden, auf dem Bildschirm leuchtete in weißer Schrift auf rotem Hintergrund der Satz:

„Mach Dich bereit!“

Roi zog den Stuhl heran, setzte sich und fuhr mit den Fingern über eine glatte Tastenfläche, welche sich vor dem Bildschirm auf der Tischplatte befand. Hiermit wurde das System bedient und er bestätigte mit einem dreifachen Tippen seines Zeigefingers, dass er bereit war. Sogleich erschien auf dem Bildschirm eine Zahl: „20000“. Das waren die „Credits“, die ihm heute zur Verfügung gestellt wurden. Die Zahl verschwand und vor ihm tauchte ein Dutzend Kästchen mit Zahlenkombinationen auf. Rois Ziel bestand nun darin, Kombinationen zu finden, die, gesteuert durch einen unsichtbaren Algorithmus, dazu beitrugen, die 20000 in den kommenden zehn Stunden auf Null zu senken. Schaffte er dies, so war seine Tagesaufgabe erfüllt. Rois Augen huschten über den Bildschirm und die Finger glitten über das Tastenfeld, sein rechter Zeigefinger bestätigte jede seiner Entscheidungen.

Die Welt hatte sich verändert. Politische Systeme wurden in den Industrienationen immer schwächer und schließlich durch Konzerne ersetzt, die das Leben der Bevölkerung gezielt zu steuern vermochten. Nach Jahrzehnten des Kampfes waren nur noch wenige Konzerne übriggeblieben. So wenige, dass noch nicht einmal mehr der Name der Konzerne eine Rolle spielte. Die Bevölkerung, die Kunden, nahmen keinen Einfluss mehr auf den Markt, die Konzerne handelten ein System unter sich aus. Die Angst vor der Zukunft war verschwunden: Sowohl für den Einzelnen, schließlich musste kein Einwohner mehr um sein Einkommen fürchten, da es einfach gestellt wurde, als auch für die Konzerne. Das interne System musste lediglich am Laufen gehalten und auf ewig fortgesetzt werden.

Roi seufzte zufrieden, als ein langes Summen ihm vermittelte, dass er exakt fünf Stunden mit seiner Tagesaufgabe zugebracht hatte. Der Bildschirm verdunkelte sich und zeigte unter einem lächelnden Gesicht die Zahl „9980“ an. Roi lag gut in der Zeit, die Aufgabe schien ohne Probleme lösbar zu sein. Nur wenige Male hatte er es in den letzten Jahren nicht geschafft, die Zahl auf Null zu senken. Das lag auch am unvorhersehbaren System: Andere ROIs arbeiteten gegen ihn. Entweder waren sie schneller als er oder blockierten durch ihre Algorithmen seine Kombinationsversuche. Die wenigsten verstanden das System wirklich, so auch nicht ROI 237-01, doch das war nicht nötig: Mit Ausdauer, Intuition und einem Quäntchen Glück war es schaffbar.

Roi rieb sich gerade das leicht schmerzende Handgelenk, als er das schnappende Geräusch der Türöffnung zu seiner Rechten vernahm. In den Pausen wurde ihm erlaubt, die Wohnkabine zu verlassen. Jenseits seiner Eingangstür gab es einen hell erleuchteten Raum mit Sportgeräten, einem Getränke- und Energieriegelautomaten und der Möglichkeit, anderen ROIs zu begegnen, weil deren Wohnkabinen ebenfalls an diesen Raum grenzten. Doch mit den Jahren wurde diese Gelegenheit kaum noch genutzt, auch diesmal verspürte ROI 237-01 keine Lust darauf. Er betrachtete die anderen ROIs eher als Kontrahenten und nicht als potentielle Gesprächspartner. So blieb er sitzen, ließ die Pause verstreichen und setzte dann seine Tagesaufgabe enthusiastisch fort.

Drei Minuten vor Ablauf der Zeit erreichte Roi sein Ziel. Hinter einer großen, nun blau leuchtenden „0“ explodierten Pixel in allen möglichen Farben auf seinem Bildschirm. Er hatte es geschafft! Mit einem Lächeln lehnte sich Roi zurück und genoss den Erfolg. Augenblicklich aktivierte sich der Küchenautomat und bereitete ihm ein köstliches Mahl in zwei Gängen. Er aß sich satt und legte sich zufrieden in das vorgewärmte Bett.

Roi erwachte. Er fühlte sich müde und nicht ausgeruht. Das Bett war bereits kalt, doch schaltete sich das Licht in seiner Kabine nicht ein. Auch der Küchenautomat schwieg, kein Kaffee, kein Toast. War etwas passiert? Roi war verwundert, dachte, es habe wohl einen Defekt gegeben. Nach ein paar Stunden wurde er unruhig. Der einsetzende Hunger ließ ihn erfolglos nach Tasten, Knöpfen oder Schaltern am Küchenautomaten suchen. Weitere Stunden in Dunkelheit und einsetzender Panik folgten. Nichts aktivierte sich in Rois Wohnkabine. Mit den Fingernägeln glitt er den Spalt entlang, der seine Eingangstür markierte. Doch nirgendwo fand er Halt, um diese aufzustemmen. Erschöpft sank er schließlich auf seinem unbeheizten Bett zusammen. Er weinte. Dann wurde es still.

Auf einem Bildschirm, weit weg von Rois Wohnkomplex, leuchtete in gelber Schrift auf schwarzem Grund eine Mitteilung auf:

ROI 237-01, Rate: 97%, Zeitraum: 30 Jahre,

Empfehlung: beenden, Status: abgeschlossen