Magic Future Money - Geschichte Nr. 19

05. Juli 2050

05. Juli 2050

Als Mina ihre Augen öffnet, scheint ihr ein weißes Licht entgegen. Sie kann nur langsam erkennen, dass es sich um eine Lampe handelt, die über ihrem Kopf schwebt. So etwas hatte sie schon öfter in Filmen gesehen. Der Protagonist wacht benommen auf einem OP-Stuhl auf und kann sich nur vage daran erinnern, wie er dahin gekommen ist. So in etwa fühlt sich Mina, als sie sich umschaut. Der Raum, in dem sie liegt, ist bis auf dem Fleck, den die Lampe beleuchtet, so dunkel, dass sie nur Umrisse erkennen kann. Niedrige Decken und keine Fenster. Und wie es scheint, ist sie allein – noch. Langsam nähern sich Stimmen, die nicht vertraut klingen. Nichts von alldem ist vertraut und plötzlich überkommt sie die Panik, die bis zu diesem Moment ausgeblieben war. Sie richtet sich ruckartig auf, wird aber von einem pochenden Schmerz am Hinterkopf zurückgehalten. Als sie sich an den Kopf fasst, merkt sie, dass sie eine Wunde hat – oder hatte. Zumindest ist sie jetzt zugenäht und alles, was bleibt, ist dieser ungemütliche Druck im Schädel. Sie blickt an sich herab und sieht, dass sie nichts außer einen OP-Kittel trägt.

Wo zur Hölle war sie nur? Und wer hatte sie hierhergebracht? Denn eins steht fest: Freiwillig hatte sich Mina nicht hierher begeben. Plötzlich hört sie keine Stimmen mehr, dafür Schritte. Sie stammen von einer Person. Schwere Stiefel, lange Schritte. Der, dem sie gehören, muss eine große Statur haben. Jetzt ist auch der Schmerz egal. Sie springt auf und sucht intuitiv nach einem Platz, an dem sie sich verstecken kann. Da sieht sie zum ersten Mal, dass der Raum, indem sie lag, so etwas wie ein Keller sein muss.

Als sie sich zum OP-Stuhl umdreht, erkennt sie Geräte, die um den Stuhl herumstehen, mit Blut beschmiertes Besteck und benutzte Handschuhe im Mülleimer. Daneben, am Röntgenfilmbetrachter, hängen noch Aufnahmen. Sie zeigen das Gehirn eines Menschen aus verschiedenen Perspektiven. Irgendetwas scheint darin festzustecken. Ein Fremdkörper, der so klein ist, dass er kaum auffällt. Mina starrt in Gedanken versunken auf die Aufnahme und erinnert sich langsam daran, was dieser kleine Fremdkörper ist, als sich plötzlich die einzige Tür am Ende des langen Raumes öffnet. Vor lauter Angst erstarrt, weiß sie nicht wohin. Im ganzen Raum gibt es weit und breit kein einziges Objekt, dass sie zu ihrer Verteidigung nutzen könnte, außer das OP-Besteck auf dem Beistelltisch hinter ihr.

Sie greift reflexartig nach dem Skalpell und schreit stotternd: „Halt! Komm mir nicht zu nahe!” Sie wiederholt sich, als – wer auch immer sich ihr näherte – weiter auf sie zukam.

„Ganz ruhig”, hallt die tiefe, aber sanfte Stimme eines Mannes zurück. „Ich verstehe, dass du Angst hast. Hätte ich auch. Du kennst mich nicht. Aber ich kenne dich, Mina.”

Mina ist verwirrt. Woher kannte er ihren Namen? Wenn ja, was war passiert, dass sie sich nicht an ihn erinnern konnte? Sie beginnt zu zittern.

„Wer bist du? Was hast du mit mir gemacht? Wo bin ich?”, schreit sie ihm entgegen.

„Es ist alles gut, ich werde dir nichts tun. Bitte leg das Skalpell zur Seite”, redet er immer noch ruhig auf sie ein, unbeeindruckt von ihrer Angriffshaltung. „Ich bin nicht dein Feind”.
Mina glaubt ihm nicht.

„Woher weiß ich, dass du mich nicht anlügst? Ich wache hier auf. An einem unbekannten Ort. Ich weiß nicht einmal, welchen Tag wir haben, geschweige, denn ob es Tag oder Nacht ist! Da vorne liegen blutige Handschuhe. Mein Kopf tut weh! Und du willst mir sagen, ich soll dir vertrauen? Nur eine Idiotin merkt nicht, dass hier etwas faul ist!”, brüllt sie ihn an. „Also sag mir endlich, was ich hier soll? Wer bist du?”

Der Mann fängt an zu lächeln.

„Es wundert mich nicht, dass du so reagierst. Aber die meisten stellen gar nicht so viele Fragen. Sie haben viel zu große Angst, um vernünftige Sätze zu bilden”, merkt er an, während er sich ihr nähert.

„Ich warne dich!”, schreit Mina. Er steht jetzt nur noch zwei Meter entfernt von ihr.

„Deine Operation ist fast schief gegangen, aber irgendetwas in dir hat wohl nach Leben geschrien. Du hast noch einmal die Kurve gekriegt, Mina”, sagt er. „Und ich bin froh darüber. Aber jetzt musst du bitte das Ding da weglegen, sonst muss ich meine Freunde rufen. Ich will dir ungern weh tun.”

Endlich kann Mina sein Gesicht erkennen. Sie hatte schon vorher bemerkt, dass er einen Arztkittel trägt. Der passt allerdings gar nicht zu seinen klobigen Springerstiefeln. Er ist wohl derjenige, der ihr diese Wunde verpasst oder wieder zugenäht hat.

So wie es scheint, hat er keine Waffen. Er starrt sie an, erwartungsvoll. Er glaubt, es fehle nicht viel, um sie zu überzeugen oder was auch immer er mit ihr vorhat. Sein Gesicht kommt ihr nicht bekannt vor. Es ist aber unerwarteterweise freundlich. Es passt zu seiner Stimme. Es passt zu den Worten, die er sagt. Aber es passt ganz und gar nicht zu den Umständen. Mina glaubt nicht, was er ihr erzählt. Dieser Mann droht ihr und sie ist ganz allein. Und er hat Freunde.

Er ist groß, wie sie an seinem Gang hören konnte, aber wirkt ganz und gar nicht schwer. Sie ist nur wenige Zentimeter kleiner als er. Vielleicht könnte sie ihn überwältigen. Sie hat aber nur dieses scharfe Metall in ihrer Hand – und ihren Instinkt. Und eben dieser Instinkt bringt sie dazu, das Folgende zu tun. Sie erblickt die Tür, die der Fremde hinter sich gelassen hat. Sie ist nicht verschlossen. Das Skalpell in ihrer Hand ist schon heiß von ihrer eigenen Wärme. Ihr Puls steigt. Sie denkt nicht lange nach, bevor sie ruckartig das scharfe Metall in Richtung seines Gesichtes wirft. Er duckt sich noch in letzter Sekunde. Dass sie ihn nicht treffen konnte, verunsichert sie, aber Mina hat nur diese eine Chance.

Sie sprintet zur offenen Tür. Sie rennt so schnell, dass sie kaum den kalten Beton unter ihren nackten Füßen spürt. Alles, was sie sieht, ist diese Tür und sie glaubt sie zu erreichen. Doch plötzlich spürt sie ein Stechen im Nacken. Sie zuckt kurz zusammen, aber lässt sich nicht aufhalten. Als sie nach der Stelle greift, holt sie ein langes, dünnes Röhrchen hervor. An der Spitze ein Pfeil. Und da merkt sie schon, wie ihr langsam schwindelig wird. Ihre Augen drehen sich und kurz bevor sie die Tür erreicht, geben ihre Beine nach. Das Letzte, was sie bemerkt, sind zwei Hände, die ihren Körper vor dem Aufprall bewahren. Dann kommt nur noch Dunkelheit.

Mina wacht erneut auf, befindet sich jedoch nicht mehr im dunklen Keller. Noch benommen von der Betäubung, kommt sie ganz langsam zurück. Diesmal sieht sie klar. Sie wendet ihre Blicke von der vergilbten Decke und findet unten erstaunlicherweise einen sauberen Raum wieder. Fast schon zu sauber. Mina schaut aus der großen Fensterreihe nach draußen. Die Sonne scheint und lässt den weißen Raum noch heller wirken. Sie stellt auch fest, dass sie in einem Bett liegt. Es riecht frisch bezogen.

„Auch mal endlich wach?”, hört sie eine verrauchte Stimme fragen. Mina erschreckt und dreht sich um. Neben ihrem steht ein zweites Bett, in dem eine Frau sitzt und sie anlächelt. Ihre Stimme klingt älter als sie aussieht. Die Frau zündet sich eine Zigarette an.

„Willst du auch eine?”

Mina lehnt dankend ab. Von den plötzlichen Bewegungen pocht ihre Wunde. Jetzt erinnert sie sich an das, was passiert ist und es kommt wieder Panik in ihr auf. Sie will aufstehen, doch sie kann nicht. Ihre Arme und Beine sind fixiert.

„Scheiße, was soll das?”, fragt sie. Mina fällt auf, dass weder sie noch die Frau eine Maske tragen. Zwei fremde, ohne Schutzvorrichtungen. Ist das erlaubt?

„Hey, entspann dich, dir passiert nichts. Glaub mir, du bist hier in Sicherheit”, versucht sie Mina zu beruhigen.

„In Sicherheit? Wovor?”, fragt Mina.

„Du bist also eine von denen”, merkt die Frau an. Ihr Lächeln, das Mina bis eben ein Gefühl von Behaglichkeit vermittelt hatte, trug auf einmal einen leichten Zug der Verachtung. „Du kannst froh sein, dass die dich nicht umgebracht haben. Wegen so Leuten, wie dir, sind wir jetzt da, wo wir sind.” Mina versteht nicht und versucht weiter sich zu befreien.

„Wegen Leuten wie mir?”

Die Frau richtet sich etwas auf und lehnt sich zu ihr rüber.

„Die haben deine Erinnerungen gelöscht”, sagt sie und deutet dabei auf ihre Schläfe.

Auf einmal hat die Frau all ihre Aufmerksamkeit.

„Wie meinst du das, Erinnerungen gelöscht? Wer sind die?”, fragt Mina. „Ich erinnere mich noch gut. Ich bin in einem Keller aufgewacht. Ich hatte nichts an, außer einem OP-Kittel.” Mina zieht ihre Decke hinunter. „Diesen Kittel! Genau! Und dann kam so ein Mann in Springerstiefeln, er hat mich betäubt … mit einem Pfeil!” Die Frau unterbricht sie.

„Und was ist mit den Erinnerungen davor, Liebes?”

Mina versteht die Frage nicht. Alles, woran sie sich erinnert, ist, dass sie, bevor sie in dem Keller aufgewacht ist, im Park joggen war. Danach hat sie sich den täglich verordneten Immun-Tee auf dem Weg zurück zum Heimbüro geholt. Zu Hause hat sie dann geduscht und sich an die Arbeit gemacht. Und dann –

„Ich… ich weiß es nicht”, stellt sie schockiert fest. „Dann bin ich im Keller aufgewacht, aber das ergibt keinen Sinn”.

Die Frau schaut sie mit einem allwissenden Blick an.

„Du kannst dich nicht an das erinnern, was danach kam, weil die Regierung zu dem Zeitpunkt ihre kleine Aktion gestartet hat. Das haben sie mit allen gemacht, die noch einen Chip hatten. Und das waren nicht wenige, das kann ich dir sagen, Liebes!” Mina schweigt und versucht zu verstehen. Die Frau hat eine Narbe auf der linken Wange, von der Schläfe bis zum Kinn. Sie nimmt die Angst und Verwirrung in Minas Augen jetzt doch ernst und geht weiter auf sie ein.

„Wie heißt du, Liebes?”

„Mina.”

„Ok, Mina, ich bin Aiti. Hör zu, vor zwei Jahren hat die FRK – Weißt du was die FRK ist?” „Die freien Realitätskämpfer.”

„Genau. Du erinnerst dich bestimmt daran, dass sie vor zwei Jahren mit ihren Demonstrationen angefangen haben. Bis dahin wusste kaum einer, dass die existieren. Sie forderten Zugang zu Simulation für alle, Aufhebung des Kontaktverbots und so weiter, weißt du ja wahrscheinlich.”

Mina erinnert sich, dass sie auf der Straße einmal von einem Mitglied der Partei angesprochen worden ist. Ob sie nicht beitreten wolle. Mina war damals in Eile, also wimmelte sie ihn ab. Er rief ihr irgendetwas hinterher von wegen, sie solle sich besser jetzt auf ihre Seite stellen, bevor es zu spät wäre. Sie weiß noch, dass sie sich damals wunderte, was der Typ von ihr wolle. Bis dahin kannte sie die FRK nicht. Später las sie in der Zeitung, dass die Partei in den Armenvierteln der Analogics entstanden ist und vor allem die Bürger vertrat, die gegen eine weitere Digitalisierung waren. Soweit sie sich erinnert, fanden in der Zeit darauf viele Demonstrationen statt. Was Aiti aber mit kleiner Aktion meint, versteht sie noch nicht.

Aiti erzählt weiter: „Anfangs waren sie noch friedlich, aber als sie merkten, dass die Regierung begann sie zu beschatten und mehrere Male versuchte durch Hackerangriffe auf einzelne Rechner von Analogics-Bürgern zuzugreifen, konnten sie nicht mehr stillsitzen. Sie erkannten, dass sie in Gefahr waren und es mehr erforderte als bloße Politik.” Mina hört gespannt zu. Was Aiti erzählt, kommt ihr bekannt vor.

„Ich meine, die Menschen waren unzufrieden, sie waren nicht glücklich. Sie litten unter Entzugserscheinungen. All die Jahre zuvor hatten sie genug Impulse von der Regierung bekommen, aber seitdem die Simulation privatisiert wurde, konnten sich nur noch die Leute eine Simulation leisten, die genug E-Coins hatten!”, klagt Aiti.
„Das habe ich natürlich alles mitbekommen. Ist schon unfair, aber es diente einem Zweck”, wirft Mina ein.

„Welchem Zweck denn, Mina? Dass die Leute, denen es vorher schon dreckig ging, es danach noch schwerer haben würden?”, erwidert Aiti wütend. Mina reagiert nicht darauf.

„Ja, dachte ich mir, dass du darauf keine Antwort hast! Ich wette, du hast dir auch trotz der Existenz der FRK nie Gedanken darüber gemacht, ob die Welt, in der wir leben, gerecht ist. Wenn man genug E-Coins hat, hat man auch die Freiheit sich so viele Simulationen zu kaufen, wie man braucht. Die Menschen hören auf sich zu beklagen, nachdem sie befriedigt wurden. Und dann wollen sie plötzlich doch mehr, während die anderen hart dafür arbeiten müssen und nicht einmal annähernd an diesen Luxus herankommen, den ihr da lebt!”

Mina wird wütend.

„Immerhin sind wir jetzt frei von der Seuche! Was denkst du, wie unser aller Leben aussähe, wenn wir das Virus nicht bekämpft hätten? Denkst du, jetzt wärst du besser dran als vorher?” Aiti wird nachdenklich, ihre raue Stimme klingt plötzlich traurig.

„Ich war 25 Jahre alt, als die Pandemie angefangen hat, Liebes. Mir stand die Welt eigentlich zu Füßen. Und damals hätte keiner gedacht, dass das Virus uns noch weitere zehn Jahre begleiten würde! Ich dachte, ich würde meine Karriere als Musikerin fortsetzen und weiter Konzerte geben. Ich war gerade mal am Anfang. Aber ich hatte keine andere Perspektive. Ich hatte nichts gelernt und meine Leidenschaft war immer Musik. Ich wäre vielleicht nicht reich geworden, aber ich hätte heute wenigstens ein Publikum, vor dem ich spielen könnte!”

Aiti zündet sich noch eine Zigarette an. Beide schweigen sich einen Moment an.

Aiti fährt fort: „Ich war damals auch froh, dass die Pandemie vorbei war. Aber da wusste ich noch nicht, was auf uns zukommt. Wer hätte denn ahnen können, dass die Leute weiterhin Angst haben würden rauszugehen. Ich erinnere mich, dass ich, nachdem das Ende der Pandemie 2033 verkündet wurde, so glücklich war. Ich bin direkt zu so einer spontanen Feier gegangen. Das war wirklich die schönste Nacht meines Lebens!” Aitis Augen strahlen bei der Erinnerung. „Ach, dieses Gefühl von Freiheit … das werde ich nie vergessen. Wir haben einfach durchgefeiert. Uns den Frust des vergangenen Jahrzehnts aus dem Leib getanzt. Aber dann, als ich am nächsten Morgen zu Fuß nach Hause bin, kam mir so ein Idiot mit Maske entgegen und schrie mich an. Wie ich mir das erlauben könne, einfach so weiterzumachen wie vorher! Dass ich die ganze Menschheit gefährden würde und so einen Mist! Ich bin einfach weitergegangen. Hätte nie gedacht, dass der handgreiflich wird. Ich hatte echt Glück, dass da eine Gruppe von Leuten vorbeikam. Ich glaube, sonst hätte ich das nicht überlebt. Er hat mich windelweich geprügelt.” Mina fühlt sich auf einmal schuldig.

„Das tut mir leid, Aiti. Das ist schrecklich.” Aiti schaut sie an.

„Ich war nicht die Einzige, Mina. Du bist wie alt? Höchstens 30. Du warst noch jung, als das alles passierte. Ich hab mitgekriegt, wie die Gesellschaft sich verändert hat. Wir waren zwar frei von der Pandemie, aber die Angst davor blieb. Sie war so groß, dass die Menschen in Kauf nahmen, ihre Freiheit einzuschränken.”

Mina erinnert sich daran, dass sie ab der achten Klasse nur noch Unterricht per Videochat hatte. Das war 2036, da war sie 14 Jahre alt. Die Bevölkerung hatte 2035, nachdem sie die damalige Regierung abgewählt hatte, an deren Stelle Wissenschaftler, Analytiker und Mathematiker an die Spitze gewählt. Die kannten sich aus mit Technik. Sie konnten die Digitalisierung weiter entwickeln. Und zwar so, dass man die Seuche bald in den Griff gekriegt hat. So, dass Menschen, auch ohne vor die Tür zu gehen, ein lebenswertes Leben haben konnten. Und die Menschen vertrauten ihnen, denn sie brachten sie aus der Krise. Nur dank ihrer strikten Politik konnte das Land vom Virus befreit werden. Nach all den Jahren rückgratloser Politik waren die Leute sogar bereit, sich einsperren zu lassen. Hauptsache die Sache hatte ein Ende. Zwei Jahre später war die gesamte Bevölkerung mit Chips ausgestattet. Die Idee, einen Chip in den Kopf zu pflanzen, kam schon Jahre vor dem Ende der Pandemie auf. Allerdings war das damals Zukunftsmusik. Erst mit der neuen Regierung und den Experten an der Macht wurde die Idee tatsächlich umgesetzt.

„Du sagst es, Aiti. Die Menschen waren bereit sich einschränken zu lassen. Wir haben das mitentschieden. Ich bin in dieser Welt groß geworden. Ich kenne das kaum anders. Als die Freiheit, von der du immer sprichst, herrschte, hatte ich von Haus aus noch gar keine wirklichen Freiheiten. Und ich habe mich normal entwickelt. Ich hatte meine Mutter und meine Schwester. Der Chip hat es mir ermöglicht, meine Freundschaften zu halten. Trotz fehlender körperlicher Nähe. Ich habe es nie vermisst.” Mina fürchtet Aitis Reaktion, sie ist aber überzeugt von ihrer Ansicht.

Aitis Nostalgie verfliegt, als sie hört, was Mina sagt.

„Willst du mir etwa sagen, die per Chip simulierte Berührung ist gleichzusetzen mit einer echten, einer realen Berührung?” Mina nickt.

„Die Technologie ist sehr fortgeschritten! Der Chip macht uns zwar etwas vor, aber ist das nicht egal, solange es wirkt? Außerdem haben wir auch die Kontaktlinse, die uns den passenden Film vor Augen führt! Wir haben den 8D-Stuhl, der uns Bewegung, Druck und auch Geschmack und Geruch vorspielt! Ich finde es beruhigend, dass ich das alles haben kann, ohne mich den Viren da draußen aussetzen zu müssen!” Aiti traut ihren Ohren nicht. Doch Mina bleibt beharrlich.

„Jetzt sei doch mal ehrlich, diese Chips sind echt gut! Während der Pandemie hat sich das Leben sowieso nur drinnen abgespielt. Viele haben gemerkt, dass es ihnen gar keinen Spaß macht, jeden Tag ins Büro zu fahren. Sich in die vollen Züge zu quetschen und den ganzen Tag mit nörgelnden Kollegen und fordernden Kunden zu tun zu haben. Wir alle hatten mehr Zeit für die Familie und Dinge, die uns wirklich wichtig waren. Und Dating-Apps und virtuelle Dates gab es auch schon vor den neuen Gesetzen. Also ich beobachte meinen potenziellen Partner lieber erst mal aus der Distanz und ohne emotionale Einflüsse. Durch die Simulation kann ich die Gefühle sogar bremsen und rationaler entscheiden. Und weißt du was? Ich bin glücklicher Single. Das, was ich brauche, gibt mir die Maschine. Und dann, als auch die Arbeitskräfte im Gesundheitswesen mehr Gehalt bekommen haben und die Regierung die Mängel in den Krankenhäusern behoben hat, ging es doch allen ein Stück weit besser. Wieso kannst du das nicht anerkennen, wieso müssen das alle immer schlecht reden?”

„Du kapierst es nicht. Rechtfertigen die positiven Effekte etwa die negativen Aspekte des Fortschritts? Es mag vielleicht anfangs so gewesen sein, wie du sagst. Als die Euphorie über das neue System noch im Vordergrund stand. Aber hast du vergessen, was danach passiert ist? Du kannst doch nicht ignorieren, dass die Hälfte der Bevölkerung an Depressionen leidet! Seit der Privatisierung von Simulation können sich nur noch die wohlhabenden Bürger ausreichend Simulationen leisten. Die vom Staat verabreichte Menge reicht noch lange nicht, um ein glückliches Leben zu führen! Ich bekomme vom Staat pro Tag eine Berührungssimulation. Denkst du das reicht, um mich zu befriedigen? Der Körper braucht mehr als das! Du weißt nicht, was das mit dem Körper macht, Mina! Man vereinsamt, man vergisst, wie sich Berührung anfühlt. Direkt nach dem die Simulation fertig ist, fällt man in ein Tief. Jedes Gefühl hinterlässt eine Leere. Und die Tatsache, dass wir uns selbst Simulationen verabreichen können, macht uns süchtig. Willst du etwa behaupten, du wärst frei?”

Mina weicht aus: „Die Regierung musste eingreifen. Der Schwarzmarkt war zu mächtig geworden. Nur die Legalisierung konnte den illegalen Handel eindämmen. Wenn es überhaupt jemandes Schuld ist, dann die der Idioten, die damals das System gehackt hatten! Sie haben dafür gesorgt, dass die Codes für Simulation in private Hände gelangten. Ich glaube, jeder von uns hätte die Chance genutzt, mit diesen Informationen ein Monopol zu schaffen. Die Regierung konnte nicht anders, als die Obergrenze für Simulation aufzuheben und den Handel für Private freizumachen. Als wir auf den E-Coin umgestiegen sind, gab es doch sowieso so gut wie kein Wirtschaftswachstum mehr. Der einzige Weg virtuelles Geld zu erzeugen, war der Handel mit Simulationen. Die Bevölkerung hatte doch sowieso schon illegalen Zugang. Dann sollten eben alle dafür bezahlen. Der Gerechtigkeit halber.”

„61 Prozent”, sagt Aiti leise.

„Was? Was meinst du jetzt damit?”, wundert sich Mina. Aiti antwortet, plötzlich ganz mitgenommen.

„61 Prozent haben damals darüber entschieden, dass ich meine Freiheit verliere. Sieht so Gerechtigkeit für dich aus?”

„So ist das mit Volksabstimmungen”, meint Mina nüchtern.

„So sollte es aber nicht sein, egal zu welchem Zweck.”

 Mina hatte vor lauter Diskussion vergessen, dass Aiti ihre Frage noch nicht beantwortet hat. „Du hast mir immer noch nicht erklärt, warum ich hier liege?”

Aiti lächelt selbstgefällig. „Das darfst du den Doktor fragen, Liebes.”

Die Tür öffnet sich und der Mann mit den Springerstiefeln tritt ein, gefolgt von einer Frau, ebenfalls im Kittel und mit Klemmbrett ausgestattet. Mina wird unruhig, als sie erkennt, wer vor ihr steht.

„Hallo Mina. Ich hoffe, dir geht es jetzt besser.”

„Fick dich.”

„Okay, das habe ich verdient … Gibst du mir wenigstens die Chance, mich zu erklären?” Mina blickt aus dem Fenster.

„Sagt mir endlich mal einer, warum ich hier bin?”

„Aiti, Sie können heute gehen. Ich glaube, Sie sind jetzt fit genug. Danke nochmal für ihren Dienst, die FRK schuldet Ihnen einiges. Ohne Sie hätten wir nicht so viele Menschen von der Kontrolle befreien können!”, sagt der Mann. Aiti lacht, während die Krankenschwester ihr aus dem Bett hilft.

„Das ist hoffentlich die letzte Schuld, Doktor.” Bevor sie mit der Schwester den Raum verlässt, dreht sie sich zu Mina um: „Pass auf dich auf, Liebes. Und an deiner Stelle würde ich das, was du gesagt hast, nicht mehr laut aussprechen. Da draußen gibt es immer noch die anderen 39 Prozent und die sind nicht alle so friedlich wie ich.”

Der Unbekannte und sie bleiben allein zurück. Doktor hat sie ihn genannt. Er muss derjenige sein, der für den dumpfen Schmerz in ihrem Kopf verantwortlich ist.

„Ich werde jetzt deine Fixierung lösen und hoffe, du bleibst trotzdem. Du kannst natürlich auch gehen, wir haben dich nur zu deiner Sicherheit hier festgehalten”, sagt er.

Mina widerspricht nicht. Sie findet, im Dunkeln sah er jünger aus. Seine Falten scheinen berechtigterweise in seinem Gesicht zu ruhen. Er hat ein liebes Gesicht. Unter anderen Umständen hätte sie ihm von Anfang an vertraut.

„Sagen Sie mir vielleicht endlich mal, warum ich hier bin?”, fragt sie, während er sie befreit. Der Doktor schaut sie an und ist nicht sicher, ob Mina ihn nicht attackieren wird. „Was? Sind Sie auf einmal stumm geworden? Sie können doch sonst so viel reden.” Er lacht und ist beruhigt, dass sie noch Humor hat.

„Nein, es fällt mir nur schwer, Ihnen das zu erklären. Auch wenn Sie nicht die Erste sind, der ich das erklären muss.” Mina wird stutzig. „Aber ich versuch’s mal so: Sie erinnern sich an die Zeit vor der Operation?” Er meint wohl die Operation an ihrem Kopf und sie nickt.

„Gut. Sie können sich deshalb nicht an das Ereignis erinnern, das Sie hierher gebracht hat, weil sie manipuliert wurden.”

„Manipuliert? Sie meinen hypnotisiert?”, fragt sie ihn.

„Nein, ich meine vielmehr gesteuert”, korrigiert er. „Ich sehe, sie sind verwirrt. Sie erinnern sich an den Angriff auf die Verwaltung des Simulationszentrums?” Mina nickt, die Presse nannte es einen Anschlag auf unsere Freiheit. Mina wusste damals nicht, was sie davon halten sollte. Sie erinnert sich nur an ein plötzliches Gefühl der Angst. Kurz darauf hat sie sich für 120 E-Coins eine Friedens-Simulation bei der BuyHappy Company gekauft. Danach ging es ihr viel besser. Schnell vergessen war das Ereignis.

Der Doktor fährt fort. „Nun, es war so, dass die Regierung uns schon seit Längerem beobachtet hat. Wir wussten also, dass sie bald handeln würde. Erst recht nach unserem versuchten Befreiungsangriff.

Unserem?”, fragt Mina.

„Ja, ich bin Arzt bei der FRK Ich habe mich irgendwann freiwillig gemeldet, als ich mitbekommen habe, dass die Regierung heimlich negative Simulationen bei Bürgern der Analogics-Viertel angewendet hat. Es war furchtbar. Die Betroffenen haben aus dem Nichts Depressionen bekommen, andere hörten einen nervigen Ton. Viele brachten sich in der Zeit deshalb um. Ich wollte nicht mehr tatenlos zusehen. Also fing ich an, der Sache auf den Grund zu gehen und ohne Wissen der Behörden die Chips zu entfernen. Anfangs mussten wir noch dafür werben, bald kamen die Menschen von allein. So konnten wir langsam unsere Bewegung aufbauen. Ohne die Entfernung der Chips durch hunderte von Ärzten hätten wir heute nicht genug Unterstützer. Und hätten es vielleicht nie geschafft, so viele Server zu zerstören.” Mina ist schockiert und kann nicht glauben, was sie hört. „Sie wollen mir sagen, die Regierung habe heimlich die Chips missbraucht? Was unterstellen Sie da?”

„Mina, ich wünschte, das wäre nicht wahr. Aber während sie sich noch weigern, der Wahrheit ins Auge zu blicken, tobt da draußen ein ganz anderer Kampf. Sie sind aus demselben Grund hier wie diese Menschen, die sich umgebracht haben. Nur Sie hatten Glück. Anders als die Presse uns darstellen will, sind wir keine Barbaren”, sagt er, immer lauter werdend. „Wir wollen niemanden verletzen. Im Gegenteil! Wir wollen, dass die Menschen endlich wieder in der Realität leben können! Wir wollen, dass uns keine Gefängnisstrafe droht, nur weil wir uns draußen mit echten Menschen treffen, anstatt unser Leben lang am PC gekettet in einer virtuellen Welt aus E-Coins, simulierter Nähe und eingebildeter Freiheit zu versinken! Das ist doch nicht das wahre Leben!”

Ihr reicht die Antwort nicht.

„Aber Doktor, warum genau bin ich hier?” Er hat sich wieder im Griff und setzt sich an den Fuß ihres Bettes.

„Sie und Millionen andere Bürger – alle, die zu dem Zeitpunkt einen Chip implantiert hatten – wurden zu Kampfmaschinen instrumentalisiert. Man simulierte Hass und Mordlust in ihren Gehirnen und brachte Sie dazu, diejenigen anzugreifen, die nicht der Kontrolle des Chips unterlagen! Sie haben Menschen auf ihrem Gewissen, Mina. Sie können froh sein, dass Sie sich nicht erinnern. Aber es ist ok, sie können nichts dafür. Man hat Sie eben benutzt. Und das ist der Grund, warum wir Sie und die anderen nicht als Feinde sehen. Die Manipulierten, die wir retten konnten, haben wir gerettet. Wir haben ihnen die Chips aus den Köpfen entfernt, so wie bei Ihnen. Und wir kümmern uns um sie. Wir sind nicht gegen die Sicherheit oder gegen die Gesundheit unserer Gesellschaft. Wir sind für die Realität! Dafür kämpfen wir. Bis wir auch den letzten Chip entfernt haben.” Er blickt aus dem Fenster, bevor er aufsteht und sich diesem nähert.

Mina kann nicht glauben, was er da sagt. Die Regierung, der sie vertraut hatte, die ihr die Freiheit gab, sich Glück und Freude zu erkaufen und sich das Leben zu schaffen, was sie sich erträumt hatte, und zwar in Sicherheit und Gesundheit. Dieselbe Regierung, hatte sie verraten, hatte ihr Vertrauen in die Technologie missbraucht. Hat sie benutzt, sie zum bloßen Objekt gemacht und sie praktisch in den Tod geschickt? Wofür? Es ging nicht mehr darum, eine bessere Welt zu schaffen. Das ist nicht die Regierung, die sie gewählt hatte, das sind nicht die Werte, die sie teilt. Mina versucht zu verarbeiten, was passiert ist: „Aber…der E-Coin sollte uns alle frei machen. Ich habe mich das erste Mal als Teil der Wirtschaft gefühlt. Früher war unser Leben abhängig von Kursen und Aktien, von der Existenz der Banken. Wir waren auf so einem guten Weg. Bald sollte doch sogar ein fester Wert bestimmt werden! Ich kann nicht glauben, dass alles anders gekommen ist.”

„Verwerfen Sie nicht sofort all ihre Hoffnung, Mina!”, versucht der Doktor sie zu besänftigen. „Es ist nicht der E-Coin, der schlecht ist. Es ist das, was wir aus ihm gemacht haben. Er ist eben nur so gut wie der Mensch selbst.”

Der Doktor steht nun vor dem Fenster und blickt nach draußen und fragt, ohne sie anzublicken: „Waren Sie in letzter Zeit mal draußen? Ist Ihnen überhaupt aufgefallen, wie die Natur wieder aufblüht?” Er hält kurz inne. „Der Wolf hat sich jetzt vollständig angesiedelt, längst vergessene Vogelarten kehren zurück. Ich habe das Gefühl, die Luft ist frischer. Ich muss schon zugeben, dass alles passiert nur, weil wir Menschen aufgehört haben, unsere Energie aus der Erde zu schöpfen. Die Rechner der E-Coins haben uns mit jedem Vorgang mit Energie versorgt, ohne dass dabei jemand zu Schaden kommt. Und vielleicht war das mal nötig, damit die Erde aufatmen kann. Wer hätte gedacht, dass wir die Autos nahezu komplett abschaffen würden. Dennoch, die Zeit ist reif und ich bin überzeugt, wir können eine bessere, gerechtere Welt schaffen, jetzt, wo wir praktisch bei null angelangt sind. Aber diesmal ohne die Chips. Wir müssen unsere Kinder wieder Kinder sein lassen. Sie sollen das haben, was ich lange für selbstverständlich gehalten habe: Freiheit”. Er dreht sich plötzlich gut gelaunt um. „Aber ich bin zuversichtlich. Haben Sie Hunger, Mina?”

„Ich weiß nicht. Woher weiß ich, dass ich Hunger habe?” Der Doktor lächelt.

„Keine Sorge, es ist normal, dass Sie sich nach Entfernung des Chips erst einmal wieder einfinden müssen. Ich lasse Ihnen etwas zu essen bringen.” Bevor der Doktor das Zimmer verlässt, hält Mina ihn auf.

„Wo sind wir eigentlich? Der Ort kommt mir irgendwie bekannt vor.”

„Wir sind im Bankenmuseum, der alten Filiale der Staatsbank. Sie wissen ja, seitdem der E-Coin eingeführt wurde, brauchten wir die Banken nicht mehr. Die FRK empfand es, denke ich, als ironisch, sich im Wahrzeichen des alten Kapitalismus zu verbarrikadieren. Komisch, oder? Früher hätten sich viele von uns gewünscht, dass die Banken sterben, jetzt wünschen wir uns die alten Zeiten zurück. Irgendwie ist der Mensch auch nie wirklich zufrieden!” Der Doktor lächelt in sich hinein. Dann dreht er sich um und verlässt den Raum. Und Mina liegt da, mit nichts mehr als einer Erinnerung – oder dem, was davon übriggeblieben ist. Und das erste Gefühl, was sie empfindet, ist Vorfreude. Merkwürdig. Sie hatte ganz vergessen, wie sich das anfühlt.