Morgen früh bin ich weg
27. März 2041, 21:14 Uhr. Noch 16 Minuten bis meine letzte Tat in diesem Rattenloch beginnt. Dann ist es vorbei und ab morgen bin ich frei. Ich sitze am kleinen Hafen auf einer Bank aus alten Paletten. Am Horizont sind mehrere Fischerboote zu erkennen und ein Kreuzfahrtschiff, das Massen von Menschen an einen besseren Ort bringt. Hier ist alles ruhig. Keine Menschen mehr, keine Zeugen. Nur der Wind, der Mond und ein altes kaputtes Segelschiff im Hafen.
Mein Handy vibriert. Zwei neue Nachrichten. Meine Tante fragt, ob ich heute bei ihr pennen will, weil es ihr draußen doch ziemlich kalt vorkommt. Ich antworte, dass ich einen warmen Ort gefunden habe und bedanke mich bei ihr. Leon schreibt: Ey, wo bist du? Die Tussen machen wieder Stress. Außerdem will Dummheit sein Vater unseren Platz hier für sich haben. Mit der Hoffnung, dass diese Mission einwandfrei abläuft, kommt die Hoffnung, endlich von diesem Typen wegzukommen. Also antworte ich nur mit dem, was ich längst hätte sagen sollen: Was willst du eigentlich? Hab mal Respekt! Erstens sind das keine Tussen, sondern einfach nur Mädchen auf der Straße wie du, Digga. Und zweitens ist es schon witzig, dass du dich nicht allein gegen jemanden stellen kannst, den du „Dummheit sein Vater“ nennst. Scheinbar hat er doch mehr im Hirn als du. Merkst du noch was? Nachricht gesendet. Kontakt blockiert. Ein falscher Freund weniger in meinem Leben.
Gerade will ich mein Handy wieder weglegen und im Kopf den Plan nochmal durchgehen, da beginnt es zu klingeln. 21:19 Uhr. Auf dem Bildschirm erscheint der Kontakt Boss. Ich geh ran: „Ja?“
„Mach dich bereit. Es ist fast so weit. Irgendwelche Probleme?“ Seine Stimme ist angsteinflößend.
„Verstanden. Und nein, keine Probleme“, antworte ich.
Piep, er hat aufgelegt. Ich schalte mein Handy aus, nehme die SIM-Karte heraus, stehe auf und zerstöre beides. Das Einzige, was ich in meinem neuen Lebensabschnitt noch gebrauchen könnte, ist die Nummer meiner Tante, entscheide ich, und diese habe ich für den Notfall immer im Kopf. Dort, wo auch immer ich landen werde, könnte ich mir außerdem ein neues Handy klauen. Nein, nicht klauen. Nicht schon wieder. Nie mehr!
Mit dem Fuß schiebe ich die Reste von meinem Handy unter die Bank an den Rand und gehe die Straße entlang. Die Wellen schlagen gegen das einsame Segelschiff. Ich folge dem Geländer, welches einen davon abhalten soll, ins kalte Wasser zu stolpern. Der Wind pfeift. Ich gehe immer schneller, bis ich schließlich renne. Als ich das schwache Licht des Bootshauses in der Dunkelheit erkenne, schaue ich mich um. Immer noch niemand in Sicht. Ich gehe normal weiter. Vor der Tür der kleinen Hütte bleib ich stehen. Ich spüre meinen Herzschlag. Meine Hände zittern. Eine Möwe, die bis eben noch ihre Kreise über das übersichtliche Hafengelände gezogen hat, setzt sich auf das Hausdach. Vor Schreck zucke ich zusammen. „Es ist nur eine Möwe“, murmele ich vor mich hin, „also beruhig dich endlich!“
Ich habe schon einige solcher Aufträge hinter mir. Immer geht es nur um Likes. Niemand kann sich mehr daran erinnern, wann diese so wertvoll geworden sind, wann Likes Scheine ersetzt haben. Wie konnte es dazu kommen, dass sie unser Reichtum bestimmen? Gespeichert auf USB-Sticks, in Handys oder Smartwatches- niemand braucht mehr eine Bank. Die Mission heute Abend ist besonders hart und wichtig. Mein Katapult in die Freiheit. Durch einen Lohn, der für den Rest meines Lebens reicht.
Ich atme einmal tief durch und fasse endlich den Mut, die Tür des Bootshauses zu öffnen. Durch den Vorraum und die angrenzende Küche gehe ich zielstrebig auf die kleine Wendeltreppe am Ende des Raumes zu. Dort setze ich meinen Fuß vorsichtig auf die erste Stufe, auf die zweite, die dritte… die vierte Treppenstufe knarrt unter meinem Gewicht und für einen kurzen Augenblick halte ich die Luft an. Dann gehe ich eilig die letzten Stufen bis zur Tür, die zu einem sonst so gemütlichen, jedoch heute eher düsteren Schlafzimmer führt. Hinter der Tür ist alles noch so, wie ich es in Erinnerung hatte, als ich gegangen bin. Das Bett unter dem schrägen Dachfenster wird durch das helle Mondlicht beleuchtet. An der Wand gegenüber steht ein Computer. Er ist an, aber sein Display ist noch aus. Ich setze mich auf den Stuhl vor dem Computer und schalte ihn an, um die Uhrzeit zu checken. Gerade als der Bildschirm zu leuchten beginnt, wechselt die digitale Anzeige auf 21:28 Uhr. Noch zwei Minuten. 119, 118, 117 Sekunden. Nervös stehe ich wieder auf und versuche den letzten Blick aus dem Fenster zu genießen.
Obwohl dieser Ort hier so etwas wie mein zu Hause war, hat es mich immer mehr erdrückt, hier zu sein. Dieselben Wege und dieselben Gesichter jeden Tag. Zuerst dieses schöne Gefühl, Pflegeeltern gefunden zu haben, die Verständnis zeigten und mir die schönsten Geheimnisse des Meeres erzählten. Sogar meine Tante nahmen sie mit auf, raus aus ihrem Kaff.
Und später dann das böse Erwachen: der Umzug, den ich nicht mitgemacht habe. Ob ich nicht wollte, konnte, durfte, spielt keine Rolle. Meine Tante wollten sie nicht mitnehmen. Es sollte aussehen, wie eine normale deutsche Auswandererfamilie in den USA und in ihrem Konzept war kein Platz für eine weitere Person. Es gab Streit um alles Mögliche. Zwei Monate zahlten sie noch die Miete für das Bootshaus. Aus Mitleid. Dann verschwanden sie für immer aus unserem Leben.
Vielleicht wäre ein Ortswechsel gut gewesen für uns beide, meine Tante und mich, aber wir konnten nicht. Ich wollte dieses Haus am Meer nicht verlassen, sie wollte aus Angst nicht zurück in ihr Ghetto. Dennoch traf sie wieder dieselben Leute aus ihrem Block wie früher. Sie hatte Glück. Ein Supermarkt stellte sie als Verkäuferin ein. Sie zog in eine eigene Wohnung im besseren Nirgendwo. Aber ich wollte nicht zu ihr, ich blieb hier. Falsche Freunde wie Leon brachten mir Kontakte. Der Boss bot mir kriminelle Jobs an, mit Likes als Bezahlung. Und doch zu selten wollte ich sie annehmen, weshalb ich mir die Miete für das Haus nicht mehr leisten konnte. Nach so langer Zeit auf der Straße ist dieser Ort mir also ferner und fremder denn je.
Der Mond spiegelt sich im Meer wider. Draußen ist es ruhig. Ich drehe mich um. 4…3…2…1…piep. Auf dem Bildschirm öffnet sich die Internetseite einer Spendenaktion. Mit zittrigen Händen greife ich in meine Hosentasche, ziehe einen schwarzen USB-Stick heraus und stecke ihn in den USB-Anschluss. Der Inhalt: eine Datei mit Zahlen, Adressen und Kontodaten. Mein Auftrag kommt mir fast schon zu leicht vor, doch die zugehörigen Namen fehlen. Im Hintergrund öffnen sich weitere Tabs im Internet mit Spendenseiten. Ein Klick weiter und ich lande auf der Ersten. Zweck: Hilfe für obdachlose Kinder. Ich klicke auf Jetzt spenden und gebe die erforderlichen Daten ein. Die Felder Name und Vorname bleiben frei. Dasselbe tu ich bei einer Umweltschutzseite, bei der es um den Klimaschutz geht. Bei den anderen geht es um Tierschutz, sauberes Wasser für alle und Bildung für Kinder und Frauen. Ich atme erleichtert auf, als ich feststelle, dass dieser Auftrag für gute Zwecke ist. Es wirkt befreiend. Ein paar Klicke weiter lande ich auf einer versteckten Seite. Hier werde ich die Namen finden, die ich brauche und mit ein paar Hacks, Zahlenkombinationen und anderen Seiten kann ich diese auch perfekt zuordnen. Zurück bei den Spendenaufrufen landen mit dem ersten Klick auf Spenden 100.000 Likes auf einem Konto für das Pflanzen von Bäumen. Beim Zweiten für das Bauen von Brunnen. Klick, 100.000 Likes für das Ende von Tierquälerei. Ein weiterer Klick für das Erbauen einer Schule und die Finanzierung der Bildung. Es kommt mir fast schon zu leicht vor, etwas Gutes zu tun. Trotzdem erscheint mir der Betrag, den ich jeweils eingeben soll, viel zu klein für solch wichtige Projekte. Mit ihrem Vermögen könnten diese fünf Personen mehrere Aktionen alleine finanzieren. Doch Likes haben viele Menschen egoistisch gemacht. Als ich auf den letzten Spendenaufruf gehe, überwältigt mich ein bedrückendes Gefühl. Auf dem Bild sind drei Jugendliche und ihre Mütter zu sehen. Sie sehen glücklich aus. Spenden Sie für die Unterstützung von obdachlosen Kindern und ihren Müttern. Die Tränen, die mir in die Augen steigen, unterdrücke ich sofort. Am liebsten wäre ich nach dem Auftrag zu meiner Tante gefahren. Doch ich weiß, dass die Entscheidung alleine zu bleiben besser für sie und mich ist. Ich gehe auf Jetzt spenden und trage die Summe und die Kontonummer der letzten Person ein, als ich plötzlich eine Stimme höre. Ruckartig dreh ich mich um, doch da ist niemand. Ängstlich wandert mein Blick durch den Raum. Ich höre einen Hund bellen. Kurz darauf wieder die Frauenstimme: „Alles gut, Helena! Da ist nichts!“
Doch der Hund hört nicht auf zu bellen.
„Was ist denn heute los mit dir? Erst bellst du ein leeres Segelschiff an und jetzt stehst du vorm verlassenen Bootshaus? Was denkst du, sollen wir mal nachgucken, welche alten Geister sich hier niedergelassen haben?“
Ich halte die Luft an und alle meine Sinne machen sich für eine Flucht bereit. Die Eingangstür quietscht. Die Frau wagt es tatsächlich, das alte Haus zu betreten. Als ich mich schon verzweifelt nach einem Fluchtweg umgucken will, hört der Hund auf zu bellen. Die Frau lacht. „Was denn, wolltest du wirklich nur der eingesperrten Ratte Freiheit schenken? Na komm, lass uns diese Nacht noch zusammen die Welt retten.“
Ich schließe meine Augen und bleibe wie versteinert eine gefühlte Ewigkeit so sitzen. Dann wage ich es, zum Fenster zu gehen und zu gucken, ob ich sie noch sehe. Niemand. Ich gehe zurück zum Computer und spende die letzte Summe, mit der Hoffnung, dass die Likes jemandem helfen werden. Der Bildschirm wird schwarz. Ich höre die Tür wieder knarren. Obwohl ich weiß, dass das nur meine Bezahlung, die Smartwatch mit den Likes sein kann, jagt mir ein kalter Schauer über den Rücken. Ich beseitige alle Spuren und gehe vorsichtig und möglichst leise die Treppe hinunter.
Natürlich habe ich Recht. Auf dem Küchentisch liegt eine Uhr. Mein Lohn. Mein Preis. Damit verbunden das langersehnte Ende aller kriminellen Taten. Ob meine Eltern stolz auf mich wären? Ich befestige die Uhr an meinem Handgelenk und stürze hinaus in die Nacht. Mein Ziel: das alte Segelschiff. Rückenwind. Ich fliege durch die Nacht. Freiheit! Ein paar Schritte später erreiche ich das Segelboot. Ich springe rauf und nach wenigen geschickten Handgriffen geht es auch schon los. Der Wind ist perfekt und der Himmel ist sternenklar, sodass Wind und Sterne mich auf dem Weg Richtung Norden unterstützen. Mein altes Leben lasse ich immer weiter hinter mir. Ich verliere die Kontrolle über meine Gefühle und beginne zu lachen. Bis in die Morgendämmerung genieße ich die Freiheit, die mir das Meer so perfekt vorspielt. Nichts kann mich mehr aufhalten. Es ist kurz vor Sonnenaufgang, als der Wind ruhiger wird und ich es endlich wage, über die Uhr an meinem Arm mein Vermögen abzufragen. Meine Hände zittern. Mir steigen Freudentränen in die Augen. Ich atme einmal tief ein und öffne mein Konto. Erst lache ich, dann weine ich und bei dem Blick Richtung Norden schmilzt meine Hoffnung wie Eis davon.