Die Sonnenfarm
„Zweihundert Kilowattstunden für ein lausiges Sandwich? Jetzt verarsch mich doch nicht, Billy. Letzte Woche waren es noch hundertfuffzig.“
Der bärtige, alte Kioskbesitzer zuckte nur mit den Schultern. „Das macht die Tokamak-Inflation. Wenn’s so weitergeht, kostet es am Wochenende schon zwofuffzig. Willst du’s oder net?“
„Jaja, jetzt gib schon her.“ Sevans schlechte Laune sank noch tiefer. „Du machst mich noch arm…“ murrte er und holte sein Smartphone heraus. Kurz hielt er es an das Bezahlpanel neben der Ausgabe und überwies die geforderte Energie. Inklusive zwanzig Stunden Trinkgeld, wie er es immer tat.
Billy reichte ihm ein dick belegtes Käse-Sandwich mit einer kleinen Serviette. Ein breites Grinsen lugte unter seinem Bart hervor. „Beehren Sie uns bald wieder. Grüß Frau und Kinder von mir.“ sagte er schelmisch.
Sevan nahm sein Mittagessen entgegen und brachte ein kurzes Lächeln zustande. „Bis nächste Woche, du alter Verbrecher“ sagte er, biss in sein überteuertes Fastfood und ging.
Wenige Minuten stand Sevan vor dem Grund für seine miese Laune. Dem größten Bankgebäude der Stadt. Grau, langweilig und einfallslos ragte es in den tristen Herbsthimmel. Seufzend wischte er sich mit der Serviette die letzten Krümel vom Mund und betrat das imposante Bauwerk.
Die Dame am Empfang war freundlich und schickte ihn sogleich zu seinem vereinbarten Termin. Fünfter Stock, rechts, die zweite Tür, Herr Partek.
Sein Klopfen wurde mit einem enthusiastischen „Immer herein!“ beantwortet. Sevan öffnete die Tür und betrat das Büro des Baufinanzierungs-Beraters.
„Ah, Herr Maler, pünktlich auf die Minute, wie wunderbar!“ Herr Partek sprang sofort von seinem Sessel auf und schüttelte ihm energisch die Hand. „Kommen sie rein, machen sie es sich bequem. Freut mich, dass sie da sind.“
„Mich auch, danke“ sagte Sevan nur. Die überwältigende Freundlichkeit hatte ihn überrumpelt. Unsicher betrat er das kleine Büro und setzte er sich auf einen schwarzen Stuhl vor dem Schreibtisch. Der Raum war winzig, kalt und genauso gesichtslos wie der Rest des Gebäudes. Eine leere, weiße Tasse mit dem Aufdruck Mitarbeiter des Monats auf dem Schreibtisch war das einzige Anzeichen auf menschliches Leben. Typisch Groß-Bank, dachte sich Sevan.
Herr Partek ließ sich zurück in seinen Sessel fallen und begann sofort auf seinem Computer zu tippen.
„Wollen wir doch mal sehen…“ sagte er gut gelaunt, den Blick fest auf den Bildschirm gerichtet. Einige Fenster voller Daten öffneten sich und der Kundenberater überflog sie schnell. „Vierzehn Uhr, Herr Maler… Ah, hier! Sie haben einen Antrag gestellt?“
„Ähm ja, richtig. Einen Kreditantrag, um genau zu sein.“ Unruhig rutschte Sevan auf dem Sessel herum. „Ich wollte wissen, ob er genehmigt wurde.“
Herr Partaks Blick klebte noch immer am Bildschirm, doch er nickte ermutigend, also fuhr Sevan fort. „Wissen Sie, ich bin Sonnenfarmer und die Krise trifft mich stark. Deshalb muss ich meine Felder erweitern. Das Startkapital hab‘ ich schon nur für die Finanzierung brauch ich Hilfe. Vor der Krise hatte ich auch keine Probleme mit den Fixkosten, aber diese verdammte Inflation …“ Seine Stimme versagte.
Herr Parteks Augen schossen noch immer über den Bildschirm.
„Ja, richtig, das neue Solarfeld, ich lese es gerade. Sie zahlen ihre Kredite immer pünktlich ab, haben sich ansonsten nichts zu Schulden kommen lassen und ihre Monatseinkünfte …“, einige schnelle Klicks, ein weiteres Fenster öffnete sich „… sind ja wunderbar. Ihre Photovoltaikanlagen scheinen ausgezeichnet zu funktionieren.“ Herr Partek schenkte ihm ein kurzes Lächeln und versank wieder in den Datenblättern.
„Danke, ich warte die Panels auch täglich“ sagte Sevan erleichtert und lehnte sich etwas entspannter zurück. Dem Antrag schien ja nichts mehr im Wege zu stehen. „Mit dem Startkapital kann ich die ersten Anlagen noch diesen Monat installieren und könnte schon in einem halben Jahr den Kredit zurückzahlen.“
„Ja, der Kredit …“ Herr Partek ließ endlich von seinem Computer ab und drehte sich zu ihm. Er lächelte noch immer, aber nun kaute er dabei auf seiner Unterlippe. „Ich fürchte, ich kann den Antrag nicht stattgeben, Herr Maler.“
„Was? Warum nicht?“ Sevan richtete sich wieder auf, jegliche Entspannung war sofort verflogen.
„Nun, es ist so…“ begann Herr Partek. „Sie haben bereits einen üppigen Kredit bei uns, der noch nicht vollständig abbezahlt wurde. Es fehlen noch über vier Millionen Kilowattstunden.“
Sevan war irritiert. Die Finanzwelt überforderte ihn. Gerade eben war doch noch alles in Ordnung. Er spürte, wie seine Hände zu schwitzen anfingen.
„Aber sie sagten doch gerade, dass ich immer pünktlich zahle. Das werde ich auch weiterhin. Und bis ich den neuen Kredit abbezahlen muss, hab‘ ich den alten rechtzeitig abgeschlossen.“
„Das glaube ich Ihnen, Herr Maler, aber ihr Versprechen reicht der Bank leider nicht als Sicherheit.“
Jetzt war Sevan endgültig verwirrt. Was stimmte denn nicht mit dem Antrag? Am liebsten würde er jetzt gerne auf den Feldern stehen und an seinen Anlagen schrauben. Deren Probleme verstand er wenigstens.
„Aber ich habe das Startkapital bereits zusammen. Damit erfülle ich doch alle Bedingungen…“
„Das Startkapital“, unterbrach Herr Partek ihn, noch immer mit einem irritierenden Lächeln im Gesicht, „Ist eine Bedingung für den Bau des Solarfeldes, nicht für den Baukredit. Und den können wir Ihnen unter diesen Bedingungen nicht genehmigen, zumindest nicht in den üblichen Konditionen.“
Daher wehte also der Wind. Sevan kniff die Augen leicht zusammen. So dumm war er dann auch nicht. Natürlich ging es der Bank wieder nur um eines. Seine sauer verdiente Energie!
„Aha! Die Zinsen sind Ihnen also zu niedrig. Einen zweiten Kredit bekomme ich also nur, wenn ich auch mehr zurückzahlen muss?“
„Ja und nein“ gab Herr Partek zu. „Im Endeffekt müssten wir die Zinsen erhöhen, wie Sie sagen, aber trotzdem brauchen wir noch eine Risikozulage.“
„Wieviel wollte ihr denn noch?“ sagte Sevan mit geballter Faust. Seine Verwirrung schlug langsam in Zorn um. „Für welches Risiko denn, die erhöhten Zinsen bieten der Bank doch schon genug Sicherheit? Und außerdem trag ich doch selbst die Verantwortung beim Bau.“
Herr Partek räusperte sich und lockerte seine Krawatte ein bisschen. „Sie müssen wissen, Herr Maler, Investitionen bringen immer ein gewisses Risiko mit sich. Insbesondere die Förderung von …“ Er räusperte sich erneut, ein unsicheres Lächeln huschte über sein Gesicht. „… veralteten Technologien.“
„Was soll das denn jetzt heißen?“
„Ich will ehrlich mit Ihnen sein, Herr Maler. Sonnenfarmer wie Sie waren einmal ein wichtiger Teil der Gesellschaft und der Grundpfeiler für unsere saubere Energieversorgung.“ Der Bankangestellte biss sich erneut auf die Unterlippe. „Aber jetzt mit der Markteinführung der neuen Tokamak-Reihe verlieren andere Formen der Energiegewinnung an Wert.“
„Wegen dieser neuen Fusionsreaktoren?“ brauste Sevan auf. Er saß bereits am Rand des Stuhls. „Diese blöden Dinger sind doch erst Schuld an der Krise. Überschwemmen den Markt mit ihrer angeblich sauberen Energie und der sauer erarbeitete Strom unsererseits verliert täglich an Wert. Jeder, der sich nicht so ein Ding in den Garten stellt, nagt doch bald am Hungertuch.“
„Genau darauf wollte ich gerade hinaus“ fuhr Herr Partek dazwischen, bevor Sevan sich komplett in Rage redete. „Sehen Sie es doch einmal so, Herr Maler. Fusionsreaktoren werden bald der letzte Schrei sein, und die Preise werden ins Unermessliche steigen.“
Er beugte sich nach vorne und redete versöhnlich auf den Sonnenfarmer ein. „Sie könnten den teureren Kreditvertrag vermeiden, wenn Sie stattdessen einen Kredit für einen Reaktor aufnehmen. Und zusätzlich bekommen Sie noch ein Modell der neusten Generation zu einem absoluten Spottpreis.“ Die Knöchel an Sevans geballten Fäusten färbten sich weiß vor Anspannung, die Lippen fest zusammengepresst.
Herr Partek fasste sein Schweigen falsch auf und redete munter weiter auf ihn ein. Dabei kramte er aus einer Schublade einen Flyer hervor und schob ihn über den Tisch.
„Ich kann Ihnen den ITER-New Energy A12 empfehlen. Er ist gerade mal so groß wie eine Garage und Sie könnten damit glatt zwei Solarfelder einsparen. Nicht zu vergessen, die …“
„Wollen Sie mich eigentlich verarschen?“ sagte Sevan plötzlich zwischen zusammengebissenen Zähnen. Seine Stimme war gefährlich ruhig.
Herr Partek blinzelte verwirrt. „Ich verstehe nicht ganz. Das Angebot ist …“
„Schmieren Sie sich Ihr Angebot sonst wo hin!“ brüllte Sevan los. Er sprang auf und warf dabei fast seinen Stuhl um „Ich bin seit zwanzig Jahren Sonnenfarmer, habe die Farm meines Großvaters übernommen und sie erfolgreich durch die Energiekrise ‘95 geführt. Seit zwanzig Jahren ernähre ich meine Familie durch sie. Und auch durch diese Krise werde ich sie durchbringen, dafür brauch ich diesen neumodischen Blödsinn nicht!“
Herr Partek wirkte kurz geschockt, doch dann bekam er einen verärgerten Gesichtsausdruck. „Herr Maler, das ist nicht nur eine Währungsreform. Kernfusion ist die Energie der Zukunft und …“
„Von wegen! Am Ende ist das doch auch nur ein fossiler Brennstoff. Lithium gibt’s nämlich auch nicht unendlich auf der Erde. Und am Ende kommt doch auch wieder nur radioaktiver Müll bei diesen Reaktoren heraus.“
Beschwichtigend hob Herr Partek die Hände. „Ich verstehe Ihre Bedenken, Herr Maler, aber bitte lassen Sie mich doch erklären.“
„Die Sonne dagegen, die gibt’s noch ein paar Milliarden Jahre lang.“ Sevan war jetzt nicht mehr zu stoppen. Was hatte er sich Gedanken gemacht in den letzten Wochen. Wie sollte er das nächste Jahr nur genug Energie für seine Familie zusammenbekommen? Und jetzt sagte ihm dieser Sesselfurzer, er solle einfach seine Farm aufgeben und sich radioaktive Brennstoffe in den Vorgarten stellen.
„Irgendwann übertreibt ihr’s mit den Dingern, ich seh‘s schon kommen“ fuhr er fort. „Und dann haben wir die nächste Katastrophe, so wie damals mit dem Klima. Und wer muss euch dann wieder den Arsch retten? Richtig, wir Sonnenfarmer. Aber das können wir dann nicht, weil man uns vorher alle in den Ruin getrieben hat.“
„Jetzt ist’s aber mal gut!“ sagte Herr Partek aufgebracht. Er atmete tief durch, strich seine Krawatte glatt und bedeutete Sevan freundlich, sich wieder hinzusetzen. Laut schnaubend folgte der seiner Aufforderung.
„Ihre Ängste sind nachvollziehbar und berechtigt, Herr Maler. Ich verstehe auch den immateriellen Wert ihrer Farm, aber denken Sie doch an die Zukunft. An die Zukunft Ihrer Familie.“
Sevan hob warnend den Zeigefinger. „Lassen Sie meine Familie da raus! Ich weiß selbst, was am besten für sie ist.“
Herr Partek hob erneut die Hände. „Entschuldigen Sie, natürlich. Also kommen wir doch zurück zum Geschäftlichen.“
Zum wiederholten Male richtete er seine Krawatte und setzte sich aufrecht ihn. „Wie bereits besprochen, kann ich Ihren ursprünglichen Antrag inklusive der erhöhten Zinsen und Risikozulage stattgeben, wenn Sie denn noch möchten. Falls Sie allerdings bereit wären, sich von mir noch einmal die Vorteile eines ITER-Reaktors erklären zu lassen …“
Sevans Gedanken schweiften ab. Ihm behagten die Optionen gar nicht. Erhöhte Zinsen plus Risikozulage würde ein großes Loch in seine gespeicherten Stromvorräte fressen und der Fusionsreaktor hatte ihn noch lange nicht überzeugt.
Sein Blick fiel auf den Flyer vor ihm. In großen, bunten Zahlen wurden die wichtigsten Daten der Anlage präsentiert. Die Effizienz und Unterhaltskosten waren phänomenal im Vergleich zu einem Solarfeld. Das benötigte Startkapital war sogar niedriger als sein bisher Zusammengespartes. Der Reaktor war tatsächlich erschwinglich.
„Ich muss mir das nochmal in Ruhe überlegen“ sagte er unvermittelt und stand auf. Sein Kopf brummte und das war keine leichtfertige Entscheidung.
„Gute Idee, Herr Maler“ sagte Herr Partek sichtlich erleichtert. „Lassen Sie sich alle Fakten noch einmal durch den Kopf gehen, schlafen Sie eine Nacht rüber, dann sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Oh, und vergessen Sie den Flyer nicht.“
Sevan nickte ihm dankend zu und nahm den Wisch entgegen. Seine Wut war verraucht, aber die Verwirrung war geblieben.
Er murmelte noch ein „Ich melde mich“ und schon war er aus dem Büro draußen. Grübelnd trat er den Heimweg an.
Sollte er den teuren Kredit für ein neues Solarfeld aufnehmen und damit trotz des hohen Risikos seinen Prinzipien treu bleiben? Oder hatte er gar keine Wahl, als sich von der alten Tradition loszusagen und seine Ideale für finanzielle Sicherheit einzutauschen? Gab es denn eine richtige Entscheidung?