Magic Future Money - Geschichte Nr. 23

Blackout

Blackout

„Schnell, schnapp dir deinen Rucksack und komm mit, bevor wir noch erwischt werden!“, rief mir Jonah zu. Ich setzte mir den Rucksack auf und hastete meinem großen Bruder hinterher. Die Beute lastete schwer auf meinen Schultern und bei jedem Schritt stolperte ich über meine Schuhe, die mir viel zu groß waren und vorher Jonah gehörten. Wir liefen durch die mit hüfthohen Pflanzen zugewucherte Sperrzone in Richtung des hohen Zauns.

„Lauf schneller!“, rief Jonah mir zu, „ich höre sie kommen!“

Und tatsächlich hörte auch ich das Kläffen der Hunde und die Sirenen der Wächter immer näher kommen. Der Zaun am Horizont wurde immer höher und deutlicher. Wenn wir ihn erreichten, hatten wir es geschafft. Wir hatten genügend Cobalt erbeutet, um davon ausreichend Nahrungsmittel und Schutzkleidung für den nächsten zweiwöchigen Blackout zu besorgen. Dann hätten wir erst einmal keine Sorgen mehr. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich mir das letzte Mal zwei Wochen lang keine Gedanken über die Grundversorgung machen musste. Während ich so in Gedanken abschweifte, kam das Bellen der Hund immer näher. Plötzlich packte mich jemand an der Hand und zog mich in ein Erdloch. Ich schrie vor Schreck kurz auf und landete unsanft auf meinen Knien. Jonah hatte mich in den Tunnel gezogen, durch den wir das Gelände illegalerweise betreten hatten.

„Hör auf, immer vor dich hinzuträumen, Tara!“, schimpfte er mit mir, ,,das muss aufhören, sonst passiert dir noch etwas.“

„Ja“, murmelte ich leise, sichtlich beleidigt, dass er mich erwischt hatte. Ich klopfte mir den Dreck von der Hose und versuchte Jonah einzuholen, der bereits im Dunkeln des Tunnels verschwunden war. Jonah war viel größer als ich, hatte längere Beine und außerdem mehr Kraft. Ich hatte immer wieder Probleme, mit ihm Schritt zu halten. Er wäre auf Beutezug für uns auch alleine gegangen, aber ich hatte ihn gedrängt, mich mitzunehmen. Auch ich auch wollte meinen Beitrag für unseren Shelter leisten. Immerhin hatten wir viele Mäuler zu stopfen und ich war mit dreizehn Jahren die älteste der Kinder unseres Shelters. Nur Jonah war älter als ich und daher natürlich auch unser Anführer. Bisher war er immer alleine unterwegs, um sich um unsere Versorgung zu kümmern. Ich kümmerte mich im Shelter um die anderen Kinder, kochte für sie, spielte mit ihnen und schlichtete ihre Streitereien. Aber das konnte auch Mateo übernehmen. Mateo war fast so alt wie ich und sehr fleißig. Er half mir im Shelter mit allen täglich anfallenden Aufgaben. Dafür war ich sehr dankbar.

„Tara!“, riss mich Jonahs Stimme aus meinen Gedanken.

Ich blickte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Der Eingang des Tunnels lag wie ein weit geöffnetes, bedrohliches Maul vor mir. Ich hatte zwar Angst im Dunkeln, weil uns die Wächter aber immer näher kamen, huschte ich hinein. In dem Tunnel war es still, nur dass Kläffen der Hunde war dumpf im Hintergrund zu vernehmen. Es war so dunkel in dem Tunnel, dass ich die Hand vor Augen nicht sah. Vorsichtig tastete ich mich an der sandigen Wand des Tunnels entlang. Ich fröstelte und zog meine Jacke enger an meinen Körper. In dem Tunnel roch es vermodert. Als sich meine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnten, konnte ich den sandigen Boden mit einigen Steinen und Wurzeln unter meinen Schuhen erkennen. Ich lief immer weiter ins Dunkle hinein, bis ich an eine Gabelung gelangte.

„Jonah?“, rief ich vorsichtig in die Dunkelheit hinein. Stille.

„Wo bist du?“, rief ich etwas lauter.

Brüllen wollte ich nicht, ich hatte Angst, dass die Wächter das Tunnelsystem entdeckten, was uns den Zugang zum Sperrgebiet ermöglichte. Eine Woge der Panik überkam mich: was war, wenn ich nicht mehr aus dem Labyrinth herausfand? Oder mich die Wächter mit meiner Beute festnahmen? Ich würde sie alle enttäuschen, die Kinder, Mateo, vor allem aber meinen Bruder. Ich zuckte zusammen, als eine Gestalt aus der Dunkelheit trat.

„Trödle nicht so herum, Tara! Wir müssen zurück sein, bevor es draußen dunkel wird.“

Jonahs Miene war finster. Ich hatte ihn wohl enttäuscht, ohne gefasst worden zu sein. Ich nahm Jonah an der Hand und lies mich von ihm durch die dunklen Gänge des Tunnelsystems führen. Innerhalb unserer Zone kannte ich mich sehr gut aus, doch hier war ich verloren.  Ich wunderte mich, wie er sich hier zu Recht fand, traute mich aber nicht, die Stille zwischen uns zu brechen. Er nahm mich sicher nicht noch einmal auf einem Beutezug mit. Ich ärgerte mich über mich selbst. Der Boden unter unseren Füßen wurde immer schlammiger und der Geruch von Morast stärker, je näher wir dem Ausgang kamen. Auf der anderen Seite der Sperrzone, also der Zone, in der wir lebten, regnete es häufig. Mein Bruder sagte, dass es vor vielen Jahren einen Krieg gegeben hätte und die gegnerischen Streitkräfte versucht hätten, das Wetter zu kontrollieren. Dies hätte zur Folge gehabt, dass die natürlichen Witterungsverhältnisse verschwanden und es nun Zonen gäbe, in denen es ausschließlich regnete und in anderen andauernd die Sonne schiene. Andere Zonen hätten mit starkem Hagel oder Schneestürmen zu kämpfen. Wir lebten in einer regnerischen Zone. Trotzdem gab es Tage, an denen sich die Sonne blicken ließ, wenn auch nur für einige Minuten. Mein größter Traum war es, meiner Zone entfliehen zu können und in einer gemäßigten Zone zu leben, die alle Witterungsverhältnisse hatte. Aber das war der reichen Oberschicht vorbehalten. Ich hatte Glück, eine regnerische Zone war immerhin besser als eine, in der ausschließlich die Sonne schien oder Schneestürme tobten. Wir hatten wenigstens keine Wasserknappheit oder mit Dürre zu kämpfen.

Die Pfützen wurden immer tiefer und meine Knie versanken im Schlamm. Der Ausgang war bereits zu sehen. Von Weitem erkannte ich die Büsche, die den Eingang des Tunnelsystems versteckten. Nur wenige hatten Kenntnis von den Tunnelsystemen. Angeblich konnte man hierdurch jede Zone besuchen. Kannte man sich allerdings nicht aus, verirrte man sich in dem System. Ohne Jonah hätte ich sicher nicht herausgefunden. Erst als wir den Rand der Höhle der erreicht hatten, ließ Jonah meine Hand los.

„Freu dich nicht zu früh, Tara“, warnte er mich, „erst jetzt beginnt der schwierige Teil unserer Reise. Hör mir gut zu und mach ganz genau das, was ich dir sage, hörst du?“

In seiner Stimme schwang Besorgnis und Nervosität mit. Er erklärte mir seinen Plan bis ins kleinste Detail und ließ ihn mich mehrfach wiederholen, damit ich ja keinen Schritt vergaß: wir mussten zunächst ungesehen durch die Büsche vom Höhleneingang bis zum Tor unserer Stadt gelangen. Anschließend mussten wir an den Wachen vorbeikommen, andernfalls würden sie den Inhalt unserer Rucksäcke durchsuchen und die gestohlene Beute entdecken. Hatten wir es bis in die Stadt geschafft, mussten wir uns beeilen, zum Shelter zu kommen. Die Straßen waren voll von Dieben und Kriminellen. Um unsere Beute zu tarnen, packten wir Blätter des Bärlauchs in unseren Rucksack auf das Cobalt. „Der Geruch wird die Diebe ablenken, sie werden denken, wir hätten nur wertlose Kräuter von draußen geholt“, erklärte Jonah. Sobald wir im Shelter ankamen, waren wir erst einmal sicher. Morgen würden wir die Ware dann auf dem Schwarzmarkt gegen Lebensmittel und Schutzkleidung tauschen. Der Blackout war nur noch einige Stunden entfernt. Bis dahin mussten wir alle Vorkehrungen getroffen haben.

Wir schlichen aus der Höhle in den Schutz des Gebüschs. Ich drehte mich um. Der Eingang der Höhle lag verborgen hinter den Zweigen und ging schräg nach unten wie ein Eingang eines Kaninchenbaus. Der Weg in das Wunderland der unzähligen Zonen. Wie gerne ich sie alle erkundet hätte. Im Hintergrund konnte ich den hohen Zaun sehen. Eben noch befanden wir uns auf der anderen Seite. Wir können nur hoffen, dass die Wächter und die Hunde den Eingang des Tunnelsystems niemals finden. Sonst wäre es mit den Beutezügen aus und vorbei.

„Tara!“, zischte Jonah.

Ich blickte ihn an und ertappte mich selbst, wie ich in Gedanken versunken war. Wir hatten das Ende des Gebüschs erreicht. Ab hier mussten wir besonders vorsichtig sein. „Der schwierige Part beginnt jetzt“, sagte Jonas, als er die letzten Blätter Bärlauch in seinen Rucksack stopfte. Ich tat es ihm gleich und setzte den Rucksack wieder auf. Die Diebe ließen sich mit dieser List sicher austricksen, aber die bewaffneten Wachen am Stadttor eher nicht. Ich war furchtbar nervös, als wir uns dem Tor unserer Zone näherten. Jonah ging voraus, ich versteckte mich hinter ihm. Der Regen strömte über unsere Kleidung, durchweichte uns langsam und die Kälte kroch vom Nacken über den Rücken und breitete sich im ganzen Körper aus. Ich schauderte.

„Guten Abend“, begrüßte Jonah die Wachen. Diese standen mit verschränkten Armen vor uns. Ihre schwarze Uniform glänzte nass vom Regen durch die Beleuchtung des metallischen Tors. Ihre Pistolen steckten im Halfter, die Schlagstöcke hingen am Gürtel und das Pfefferspray steckte einsatzbereit daneben. Jonah erzählte mir, dass sie noch weitere, nicht sichtbare Waffen bei sich trugen. Die Einstellungskriterien schienen eine gewaltige Körpergröße und ein muskulöser Körperbau zu sein. Die beiden Wachmänner machten mir Angst, neben ihnen kam ich mir vor wie ein schwächlicher Zwerg.

„Guten Abend“, entgegnete der linke Wachmann, „eure Ausweise bitte.“

Meine Hände zitterten, als ich meinen Strichcode am Handgelenk zeigte.

Der Wachmann schaute auf mich herab und musterte mich mit seinen schwarzen Augen: „Warum zitterst du, Kleine? Hast du etwas zu verbergen?“

„Nein!“, brach es aus mir heraus. Schnell bemerkte ich, dass meine Reaktion sehr verdächtig wirken musste, also fügte ich hastig hinzu: „Mir ist kalt. Und sie beeindrucken mich. Wenn ich groß bin, möchte ich auch ein Wächter werden!“

Die Wachen lachten und meinten, dazu müsse ich noch etwas wachsen und mehr essen. Sie scannten unsere Handgelenke und öffneten uns das Tor, durch welches wir schnell hindurchliefen.

Als sich das Metalltor hinter uns schloss flüsterte mir Jonah zu: „Gut gemacht! Ich bin noch nie so einfach an den Wachen vorbeigekommen.“

Ich lächelte. Es war das erste Mal heute, dass mein großer Bruder etwas Nettes zu mir sagte, auch wenn ich mit meiner eigenen Leistung nicht sonderlich zufrieden war. Wir bogen hinter dem Tor nach links in eine kleine Gasse zwischen hohen Betonriesen ohne Fenster und warteten hastig durch den Schlamm. Nach einem kurzen Marsch kamen wir endlich beim Shelter an. Auch wir wohnten in einem fensterlosen verlassenen Betonriesen, im zweiten Stock von dreißig. Jonah entsperrte die schwere Eisentür und schob sie auf.

„Willkommen zuhause, Tara. Ich bin sehr stolz auf dich und deinen ersten Beutezug!“, sagte er und mir schossen die Tränen in die Augen. Schnell wischte ich sie weg und lächelte meinen Bruder strahlend an. Er nickte und schob mich durch die Tür, die hinter uns mit einem schweren Scheppern ins Schloss fiel. Wir stiegen die Wendeltreppe aus Beton hinauf. Im Treppenhaus war es absolut still. Jede Etage hatte eine weitere schwere Eisentür mit Isolierung und Verriegelungsmechanik, es kamen keine Geräusche rein oder raus. Wir erreichten den zweiten Stock. Die Tür war fest verriegelt. Jonah gab den geheimen Code auf dem Ziffernblatt ein und die Tür gab nach. Wir waren zuhause.

Unser Shelter bestand aus zwei großen Räumen mit hohen Betonwänden und ohne Fenster. Der Aufenthaltsbereich war groß, ausgestattet mit Bierbänken, Biertischen und einem alten Herd. Außerdem hatte Mateo mit den Kindern die Wände mit Sprühlack verschönert. Oder „verschlimmbessert“, wie Jonah es nannte. Der Aufenthaltsraum wurde zum Essen und Spielen genutzt, der Raum dahinter ausschließlich zum Schlafen. Dort befanden sich alte Metalldoppelstockbetten. Jeder hatte seine eigene Koje, sein eigenes kleines Reich. Nur Jonah hatte ein Einzelbett und „Zimmer“, das mit Messebauwänden in die hintere Ecke des Schlafbereiches gebaut worden war. Meine Koje war mit Stoff verhangen, so dass niemand in meinen Bereich schauen konnte. Darin hatte ich meine beiden Bücher, die ich den Kindern gerne vorlas, meine Kräuterfibel, die ich mit Jonah zusammen erstellt hatte und Fritz. Fritz war mein Kuscheltier. Ich hatte ihn schon immer, Jonah sagte, meine Eltern hätten ihn mir geschenkt, als ich noch ein Baby gewesen sei. Ich konnte mich an unsere Eltern nicht mehr erinnern, Fritz war alles, was mir von ihnen geblieben war.

„Tara!“, riss mich Mateo aus meinen Gedanken und lief mir mit ausgestreckten Armen entgegen. Er grinste Breit und fiel mir um den Hals, beinahe hätte er mich umgerissen. Seine braunen langen Locken hingen mir ins Gesicht, ich bekam kaum Luft, als er mich drückte. Auch wenn Mateo erst zwölf war, war er bereits ein gutes Stück größer und kräftiger als ich.

„Ich habe dich so vermisst, Tara“, schluchzte er.

„Ich dich auch“, entgegnete ich.

Ich löste mich aus seiner Umklammerung: „Mateo, vielen Dank, dass du dich hier um alles gekümmert hast. Ich wäre nicht gegangen, wenn ich nicht gewusst hätte, dass du dich hier um alles kümmerst.“

Ich hätte Stolz oder Glück in seinen Augen erwartet, doch er schaute nur verlegen auf den Boden.

„Es sind zwei Teller zu Bruch gegangen“, gestand er.

Ich lachte laut auf: „Das ist doch nicht Schlimm, ich habe mit Schlimmerem gerechnet.“ Doch noch immer war Mateos Miene düster.

„Was ist los?“, fragte ich ihn besorgt.

„Sonja ist abgehauen. Sie ist gestern Nacht verschwunden. Ich habe es nicht mitbekommen. Es tut mir so wahnsinnig leid.“

Ich war fassungslos, ein verschwundenes Kind so kurz vor dem Blackout. Sonja war die jüngste Bewohnerin des Shelters. Sie vermisste ihre Eltern sehr. Ich kümmerte mich sehr intensiv um sie, damit sie ihren Schmerz ein wenig vergaß. Ihre Eltern waren tot, so wie alle Eltern der Kinder des Shelters. Niemand kümmerte sich um Straßenkinder in unserer Zone, deshalb hatten Jonah und ich vor zwei Jahren den Shelter gegründet. Sonjas Mutter wurde bei einem Beutezug in einer anderen Zone erwischt und hingerichtet, zumindest erzählte man es sich so. Böse Zungen behaupteten, sie habe sich in einer gemäßigten Zone niedergelassen und ihre Familie im Stich gelassen. Sonjas Vater zerbrach an dem Verlust seiner Frau und vernachlässigte Sonja, sodass wir sie aufnahmen. Ich fand sie eines späten Abends am Stadtrand im Müll nach Nahrung suchen. Ich brachte sie nach Hause, um dort festzustellen, dass ihr Vater nicht in der Lage war, sich um sie zu kümmern. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass seine Tochter nicht nach Hause gekommen war. Einige Tage nachdem ich Sonja ins Shelter geholt hatte, verstarb ihr Vater. Wie erklärte man einer Fünfjährigen, dass ihre Eltern tot waren? Mateo und ich erzählten ihr von dem unsterblichen Geist eines jeden Lebewesens, der die Hülle nur bewohnt und später zu etwas Größerem wurde. Wir fanden die Idee tröstlich, dass ihre Eltern nicht ganz weg waren. Doch leider hatte Sonja das falsch verstanden, sie war fest der Überzeugung, ihre Geistereltern zu finden. Ich dachte, ich hätte ihr diese Idee ausgeredet. Doch ich schien mich geirrt zu haben, sie hatte wohl die Gunst der Stunde ergriffen, als ich mich letzte Nacht mit Jonah auf den Beutezug aufmachte, im Schutze der Dunkelheit musste sie abzuhauen sein.

„Du kannst nichts dafür, Mateo, es ist meine Schuld“, sagte ich schließlich und fuhr fort, „ich mache mich gleich auf die Suche. Ich muss sie vor dem Blackout finden.“

Schnell zog ich mir trockene Kleidung an und erklärte Jonah die Lage: „Bitte verkaufe die Beute ohne mich, ich muss Sonja finden! Ich weiß, ich sollte es von dir lernen, aber dafür ist noch Zeit. Ich habe Angst, dass ihr etwas zugestoßen ist.“

„Tara, du gehst nicht alleine in die Dunkelheit. Wenn Sonja abgehauen ist, ist das ihre Entscheidung. Es ist viel zu gefährlich für dich!“, bestimmte Jonah.

„Sie ist fünf Jahre alt, Jonah. Ich kann sie nicht alleine ihrem Schicksal überlassen!“, sagte ich zornig. Jonah griff meine Schulter und riss mich zu Boden.

„Du. Gehst. Nicht. Alleine!“, betonte er noch einmal.

„Okay“, räumte ich ein.

Ich wartete, bis Jonah sich umdrehte, dann rannte ich so schnell ich konnte und verschwand durch die Tür in die Dämmerung.

„Wo würde ich hingehen, wenn ich meine Eltern suche würde?“, fragte ich mich. Gedankenverloren lief ich durch die dunklen Gassen zwischen den Betonriesen. Sonjas Vater hatte in einem Verschlag aus Wellblech und Stoffen gelebt, das von Plünderern nach seinem Tod weggeschafft worden war, daher musste ich dort nicht suchen.

„Wo wohnen die Geister?“, fragte mich Sonja einmal. Damals habe ich mir nicht bewusst gemacht, wieso sie mich des fragte. Doch auf einmal ergab ihre Frage Sinn.

„Im Himmel, mein Schatz“, antwortete ich ihr.

„Wie gelangt man dorthin?“, fragte sie.

„Eines Tages gelangen wir alle in das Reich der Geister. Aber wir haben noch Zeit. Für die Lebenden gibt es keinen Weg dahin, weil man von dort nicht mehr zurück gelangen kann.“ Ich erschrak.

„Sie hatte doch nicht vor, sich etwas anzutun?“, dachte ich düster.

Ich musste sie unbedingt finden, bevor ihr etwas Schlimmes geschah. Je näher ich der Innenstadt kam, desto heftiger wurde der Regen. Die Straßen waren menschenleer. Die meisten Menschen mieden die Straßen nach der Dämmerung, man hörte immer wieder davon, dass Menschen in der Dunkelheit verschwanden. Auch wenn ich ein mulmiges Gefühl in meiner Magengegend verspürte, musste ich weiter nach Sonja suchen. Ich gab mir die Schuld für ihr Verschwinden. Die Innenstadt war weitestgehend überdacht, sodass man im Trocknen laufen konnte. Einige Tavernen hatten noch geöffnet, die kleinen Laternen über ihren Eingängen leuchteten wie Glühwürmchen in einer lauen Sommernacht. Eine andere Straßenbeleuchtung gab es nicht. Es gab im Inneren der Stadt einen Turm, der sehr weit über die Wolken ragte. Der einzige Ort, an dem man die Sonne richtig sehen konnte. Doch dieser Turm durfte nur von Wächtern und der Obrigkeit betreten werden. Trotzdem vermutet ich, dass Sonja hinauf wollte, um dem Himmel und dadurch ihren Eltern nahe zu sein. Alle anderen Orte, an denen sie sich hätte aufhalten können, hatte ich bereits aufgesucht. Bereits das Betreten des Vorplatzes war verboten. Doch ich konnte Sonja nicht einfach so im Stich lassen.

Ich lief weiter, bis ich an den Sockel des Turms gelangte. Da die Innenstadt überdacht war, konnte man die Spitze des Turms nicht sehen, lediglich der Sockel stand dunkel und mächtig in der Mitte der Innenstadt. Er hatte ein großes rundes Eingangstor, das an einen riesigen Schlund erinnerte. Ansonsten war sein Stein glatt und aus Beton, so wie alles in dieser Zone. Es war niemand zu sehen, keine Wächter und keine anderen Menschen. Ich schlich einmal um den Turm herum, aber ich musste feststellen, dass es nur das Eingangstor als Zugang gab. Die Nacht war bereits hereingebrochen und die Stadt war nun finster und es herrschte Grabesstille. Vorsichtig fuhr ich mit meinen Fingern über die Gravur des Eisentors. Zu meiner Überraschung gab das Tor in der Mitte nach und bewegte sich ein Stückchen. Ich drückte die Tür ganz langsam auf und huschte durch den Spalt in das Innere des Turms. Die Tür schnappte hinter mir ins Schloss und ich stieß einen erschreckten Schrei aus. Schnell schlug ich die Hände auf meinen Mund und sah mich um. Von innen war der Turm schummrig beleuchtet, mein Schrei hallte noch immer wider. Vor mir lag eine Wendeltreppe, die kein Ende zu nehmen schien. Ansonsten war der Turm verlassen.

„Wenn ich Sonja hier nicht finden werde, dann weiß ich wirklich nicht, wo sie hingegangen sein sollte“, sprach ich mir Mut zu, sie hier zu finden und stieg die Wendeltreppe hinauf. Ich malte mir aus, was passieren würde, wenn mich jemand im Inneren des Turms finden würde; wahrscheinlich würden mich die Wächter auf der Stelle wegsperren oder Schlimmeres. Ich versuchte, die düsteren Gedanken wegzusperren und lief immer weiter den Turm hinauf. Die alten Neonröhren an den Wänden flackerten entweder, oder leuchteten nicht mehr und beleuchteten die Betonstufen nur wenig. Ich hörte nichts außer mein eigenes angestrengtes Atmen, ich konnte das Ende der Wendeltreppe nicht sehen und hatte das Gefühl dafür verloren, wie weit ich bereits aufgestiegen war. Mit jeder Kurve wirkte die Treppe länger. Auch wenn mich Jonah immer wieder für mein Tagträumen rügte, waren sie in dieser Situation hilfreich, ich vergaß die Schmerzen in meiner Lunge und in meinen Beinen und stieg Gedankenverloren immer weiter hinauf.

Plötzlich vernahm ich ein leises Wimmern. Je weiter ich ging, desto deutlicher wurde es. Ich nahm meine gesamte Kraft zusammen und sprintete die letzten Stufen hinauf; und tatsächlich, auf den oberen Stufen saß ein kleines Mädchen mit weißblondem Haar zusammengekauert und weinte leise.

„Sonja!“, rief ich lauter als beabsichtigt, „da bist du ja, ich habe mir solche Sorgen gemacht. Endlich habe ich dich gefunden!“ Sonja zuckte zusammen und hob ihren kleinen Kopf.

„Tara?“, schluchzte sie und rieb sich die Augen. Ich nahm sie hoch und umarmte sie ganz fest.

„Was machst du denn hier? Wieso bist du weggelaufen?“, fragte ich sie.

„Ich wollte zu meiner Mama“, weinte sie.

„Komm, wir gehen nach oben und schauen, ob wir in die Geisterwelt schauen können, okay?“, versuchte ich sie zu trösten.

Sie wischte sich de Tränen weg und klammerte sich an mich. Meine Beine brannten die letzten Stufen bis wir die Plattform erreichten. Und tatsächlich gab es hier oben Fenster nach draußen. Ich hatte nur davon gehört, bisher aber keine gesehen. Wegen des starken Regens waren die Häuser alle aus undurchdringbarem Beton mit Metalltüren gebaut. Die Winde brächten häufig Tornados mit fliegenden Steinen über unsere Stadt, daher gäbe es keine Glasfenster, erklärte mir Jonah einmal. Aber hier standen wir nun, im verbotenen Turm über den Wolken unserer Zone und schauten durch Fenster aus echtem Glas in den Sternenhimmel. Die Wolken schlossen bündig mit den Mauern unserer Zone ab. Im Hintergrund konnte ich den Zaun sehen, hinter dem ich mit Jonah das Cobalt erbeutet hatte. Dort gab es keine einzige Wolke. Am Horizont begann bereits die Morgendämmerung. So etwas Schönes hatte ich noch nie zuvor gesehen und ohne dass ich hätte erklären können, wieso, liefen mit Tränen über mein Gesicht.

„Siehst du die Welt der Geister?“, fragte ich Sonja und sie nickte nur. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

„Ich bin müde, können wir nach Hause, bitte?“, gähnte sie.

„Natürlich“, entgegnete ich.

Ich war so froh, dass ich Sonja wohlbehalten wiedergefunden hatte. Gemeinsam stiegen wir die lange Wendeltreppe hinab. Ich hoffte, dass Jonah das Cobalt auf dem Schwarzmarkt gegen Nahrung, Kerzen und warme Kleidung tauschen konnte und er nicht mehr sauer auf mich war. Der Blackout stand kurz bevor. Zwei Wochen lang würde es dann keinen Strom geben, Kochen, warmes Wasser und die Heizung würde ausfallen. Außerdem würden die elektronischen Türen der Wohnungen ausfallen, sodass es keine Möglichkeit mehr geben wird, die Wohnungen zu verlassen oder hineinzugelangen. Daher muss alles gebunkert werden. Die Zeit kurz vor dem Blackout war immer die gefährlichste, Menschen raubten sich auf der Straße gegenseitig die Vorräte und manchmal wurde sogar jemand verletzt. Ich musste Sonja also schleunigst in den Shelter schaffen und hoffen, dass Jonah alle Vorräte sicher nach Hause schaffte. Der Blackout sollte in drei Stunden beginnen und wir hatten noch einen weiten Weg nach Hause.

Warum es den Blackout gab, wusste niemand. Es gab aber viele Theorien, eine verrückter als die andere.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hatten wir den Sockel des Turms erreicht. Ich hoffte inständig, dass der Turm heute nicht bewacht wurde. Die Chancen standen ganz gut, da es kurz vor dem Blackout immer überall in der Zone Tumulte gab, hatten die Wächter viel zu tun und manchmal vernachlässigten sie einige Posten. Vorsichtig drückte ich die schwere Tür einen Spalt auf. Ich konnte keine Wachen erkennen. Ich drückte die Tür weiter auf und schob erst Sonja und dann mich durch den Spalt. Die Tür schnappte hinter uns wieder zu. Schnell nahm ich Sonja an der Hand, um mit ihr den gesperrten Bereich um den Turm herum zu verlassen und nach Hause zu gelangen. Der Tag war bereits hineingebrochen und der Blackout keine Stunde mehr entfernt.
„Halt!“, rief eine tiefe Stimme uns, „stehen bleiben!“

Vor Schreck blieb ich wie angewurzelt stehen. Sonja schaute ängstlich zu mir herauf. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie zwei Wächter auf uns zu liefen. Ich schob Sonja hinter mich, und machte mich ein wenig größer, als ich war.

„Ihr habt verbotenes Gelände betreten. Dafür können wir euch verhaften,“ sagte der erste Wächter. Er hatte eine beeindruckende Statur und gelockte dunkle lange Haare, die unter seinem Helm hervorkamen. Der andere Wächter war etwas kleiner aber nicht weniger beeindruckend. Sein wohlgestutzter Bart unterstrich seine strenge Miene.

Panik machte sich in mir breit, Sonja und ich würden eine Verhaftung nicht überstehen. Mir musste schleunigst etwas einfallen. Was würde Jonah machen? Wie würde er sich rausreden? Lügen, dass wir es nicht wussten? Nein, das würde uns nicht helfen. Meine Gedanken rasten und mir wurde schwindelig.

„Hey“, sagte der Wächter mit den langen Haaren plötzlich, „bist du nicht das Mädchen von der Stadtgrenze gestern? Die, die Wächter werden will?“

„Ja“, entgegnete ich verblüfft. Ich hatte ihn nicht wiedererkannt, aber nun, als er es sagte, fiel es mir wieder ein.

„Wenn du ein Wächter sein willst, musst du dich an die Regeln halten, hörst du?“, fuhr er mich schroff an. Dann lächelte er.

„Seht zu, dass ihr abhaut. Schnell!“

Ich nahm Sonja an die Hand und rannte. Wir rannten so schnell wir konnten, durch die überdachte Betoninnenstadt, vorbei an geschlossenen Tavernen, durch den Regen und den Schlamm bis an die Stadtmauer zu unserem Betonhochhaus. Meine Lunge brannte und ich konnte keinen Schritt mehr gehen.

„Es tut mir leid, dass ich weggelaufen bin“, murmelte Sonja leise und Tränen schossen ihr in die wasserblauen Augen.

„Mach das nie wieder“, schimpfte ich und umarmte sie.

„Schnell, lass uns reingehen, wir haben keine Zeit mehr bis zum Blackout.“

Mit letzter Kraft stand ich auf, nahm Sonja auf den Arm und lief die Stufen hinauf zum Shelter. Schnell gab ich den geheimen Code ein, damit sich die Tür öffnete. Wir waren zuhause. Ich schloss die Tür hinter uns und sah mich um. Der Shelter wirkte verlassen.

„Jonah?“, rief ich, während ich triefend im Eingangsbereich stand. Keine Antwort.

„Mateo?“

Wieder nur Stille.

Ich rannte ins Schlafzimmer, doch auch das war leer und verlassen.

„Wo sind nur alle?“, fragte ich mich laut und voller Panik.

Plötzlich wurde alles dunkel, die Metalleingangstür verriegelte, der Blackout begann.