Die Kryptokia
„Guck mal hier, Schwesterchen. Ein Geldschein!“, rief Suti.
„Was? Wovon sprichst du?“, ich strich mir eine Strähne aus dem Gesicht und schaute hoch aus dem Müllberg, in dem ich wühlte.
„Na hier Dummerchen!“, wedelte Suti mit einem Papier. Ich schnappte es ihr aus der Hand.
„Was ist das?“, murmelte ich, während ich das schmutzige und zerfledderte Etwas in der Hand hin und her drehte. Irgendwie sagte mir das Wort etwas.
Suti war schon wieder mit beiden Händen tief im Müll vergraben. Unsere bunten Shirts waren schmutzig und gerissen. Unser Zustand hatte also durchaus Ähnlichkeit mit dem des Papiers. Im Dreck zu wühlen, war für uns inzwischen zur Normalität geworden und der Gestank gehörte dazu.
Meine Schwester holte mich aus meinen Gedanken: „Ach, Mama hatte doch erzählt, dass sie das bei Opa zum Bezahlen brauchten. Kleines Sieb-Hirn!“
Ja gut, ich gebe zu, ich bin schon immer etwas schusselig gewesen. Ich schaute noch einmal auf das Papier und blinzelte gegen das bisschen Sonne, dass durch die aschgrauen Wolken hindurch kam.
„Aber verstanden habe ich es nie richtig! Und wenn man den Zettel verliert, und wenn er kaputt geht, und wenn …“, Suti unterbrach mich und schubste mich kichernd um.
„Ach Lexi, wer hat die Welt von damals schon verstanden? Immerhin haben sie Tiere ausgerottet, sich bekriegt und was sonst noch alles. Sieh was aus uns geworden ist. Ob sie sich das damals so vorgestellt hatten?“, Suti schaute hoch in Richtung Stadt.
Da ergriff ich die Chance und warf sie ebenfalls um. Sie hielt sich an mir fest und wir kugelten zusammen den Müllberg hinunter.
Hier draußen war die Welt kahl und dreckig. Die Erde hatte große Risse und kein Grün war zu finden. Wilde Tiere lebten allein noch in Erzählungen. Die Tage und Nächte waren heiß und Trinkwasser und Erfrischungen gab es nur an Regentagen. Die Stadt lag ein paar Stunden zu Fuß entfernt in einem grauen Dunst. Wir konnten lediglich erahnen, wie es dort inzwischen aussah. Dieses riesige neon-pinke Schild über der Stadt, strahlte über allem. Es leuchtete so grell, dass es sogar hier draußen auch nachts nie komplett dunkel wurde. Gerade stand dort 2087. Aber Zahlen hatten für uns keine Bedeutung. Wir lebten hier draußen im Müll der Stadt. Hier wurde lediglich noch abgeladen und nicht mehr verwertet. Das begann mit der großen Explosion der Müllverarbeitungsanlagen. Sie kamen nicht mit den verschiedenen Materialien aus den vielen Replikatoren zu Recht, die überall im Umlauf waren und die mit vielen illegalen Materialien gefüttert wurden, um irgendwelche Dinge herzustellen. Drogen entstanden in Heimarbeit und überschwemmten die Stadt.
Meine Schwester Suti war alles, was ich noch hatte. Ich war zehn Jahre alt und sie achtzehn.
„Eines Tages hatte die Welt sich verändert“, hatte Mama zu Suti oft gesagt. Mama verschwand, da war ich fünf. Auf einmal war sie weg. Dann kamen Männer, die uns in eines der riesigen Glasbauten brachten. Sie hielten uns fest und machten einen viel zu groben Schnitt an unseren kleinen Armen, nahe der Schulter. Dann klebten sie ein kleines Teil hinein und sprühten die Wunde wieder zu. Es verheilte zum Glück schnell, hinterließ aber diese wulstige Narbe, die mich beständig an jenen Tag erinnerte. Sutis Narbe war genauso scheußlich. Sie verdeckte sie permanent mit dem Ärmel, weil sie nicht darüber nachdenken wollte.
Die Männer transportierten uns fort, wie den restlichen Müll an den Rand der Stadt und ließen uns stehen. Mama hatte uns verboten hierher zu gehen.
Wir trafen eine Gruppe Kinder und streiften etwa zwei Jahre mit ihnen umher, ohne je einem Erwachsenen zu begegnen. Die Gruppe wuchs weiter. Irgendwann gab es viele Auseinandersetzungen über gut und schlecht und die Dinge, die wir tun sollten.
Die Gruppe trennte sich und Suti und ich beschlossen in der Nähe zu bleiben, jedoch ohne die Gruppe. Der Kontakt zu den anderen blieb bestehen. Bei Erkundungstouren besuchten wir uns und erzählten davon. Die Kleinen liefen dann gerne um die Wette oder warfen mit Steinen und die Älteren unterhielten sich über alles, was es zu wissen galt. Farid war ein Jahr älter als Suti und sie freute sich besonders, wenn er dabei war.
„Soll ich es dir noch mal erzählen?“, Suti riss mich aus meinen Gedanken. Es war mal wieder soweit. Alle paar Monate brachte sie dem kleinen Sieb-Hirn ein paar Erinnerungen zurück. Sie zog mich von den riesigen Müllbergen weg. Wir entfernten uns weiter von der Stadt, während wir die Kleinigkeiten aßen, die wir im Müll entdeckt hatten und gingen nach Hause. In dem Flugzeugwrack, dass wir verlassen vorgefunden hatten, als wir damals von den anderen Kindern weggingen, war es klein, aber für uns beide perfekt. Viel Gepäck musste es nicht verstauen können: ein Foto von Mutter, ihre Datenbrille und zwei Trinkbecher. Leider war der Akku der Brille längst leer und ich nahm sie nur noch als Erinnerung mit.
Suti holte tief Luft: „Nachdem das Geld von damals abgeschafft wurde, hatten alle Menschen die letzten Papierscheine verbrannt. Dieses hier wurde scheinbar vergessen. Jetzt hast du es auch mal gesehen, kleines Andenken an Opa. Nachdem es so viel Neid und Krieg gab, sollte das Geld abgeschafft und durch eine Gleichverteilung ersetzt werden. Sie mussten jedoch sicherstellen, dass jeder auch seine Arbeit zum gesamten System beitrug. Es wurde eine künstliche Intelligenz entwickelt, die Kryptokia. Sie wurde von vielen Menschen gemeinsam und frei entwickelt, denn genau das sollte sie verkörpern, eine freie und gerechte Welt. Es startete eine fünfjährige Testphase in der die Datenbrillen als Kommunikation zwischen Kryptokia und den Menschen benutzt wurde. In der Zeit wurde ich auch geboren, aber ich erinnere mich nicht mehr daran. Die Kryptokia bekam zunächst Informationen durch Fragebögen und einfach messbaren Werten wie Körpergröße und Gewicht geliefert, und konnte so auswerten, für welche Aufgaben sich welche Menschen eigneten. Die Informationen über die täglichen Aufgaben, wurden über die ohnehin getragenen Datenbrillen angezeigt. Trotzdem waren viele Menschen einfach nicht glücklich bei den zugewiesenen Tätigkeiten und vernachlässigten sie mit der Zeit. Um das zu verhindern, bekam jeder Erwachsene dann so ein wabbeliges Implantat in den Nacken eingesetzt und die Kryptokia wurde darauf gespeichert. Es hieß, sie lebte dann in dir und viele meinten, es war ein Parasit oder etwas Außerirdisches. Sie war, wie geplant, schnell in jedem Menschen einsatzbereit, denn ohne sie hatte man keinen Zugang zu Essen und Waren, da sie ja das Geld ersetzte. Mama hatte auch so ein Ding bekommen. Die Kryptokia berechnete auch hier für jeden Mensch einzeln welche sinnvolle Aufgabe dem Wissen und Können entsprach. Alle Informationen dazu, zog sie sich aber nun aus Gehirn der Träger, den Nervenbahnen, den Muskelinformationen, einfach dem gesamten Körper. Man versprach sich, dass so die wirklich richtigen Aufgaben für alle gefunden werden und es damit keine Nörgler mehr geben würde und die Kryptokia dann dafür sorgte, dass jeder so viel und gut arbeitete, wie er konnte und niemand faul da saß, während sich andere abrackerten. Klingt doch gut, oder? Alles gehörte allen, denn jeder tat sein Bestes.“
Beim Flugzeug angekommen, öffneten wir quietschend die Tür und kuschelten uns auf einer alten Matratze aneinander, das taten wir am allerliebsten.
Während ich an dem Papier in meiner Hand hin und her fühlte, erzählte Suti weiter: „Die Kryptokia löste irgendwann schleichend das Grauen aus. Die Menschen entwickelten sich mehr und mehr zu ferngesteuerten Zombies. Nach einer Weile schuf Kryptokia sich ihre eigene Welt, denn durch die Steuerung von Gedanken, entwickelte sie selber welche und wollte Gleichgesinnte erschaffen. Als einige sie abschalten wollten, hatte sie sich gewehrt und gegen uns gewandt. Viel ist darüber nicht mehr bekannt, es wurde wohl alles vernichtet, da war ich noch ganz klein. Wobei das wabbelige Dings in den Köpfen blieb, da es nicht einfach herauszunehmen war. Es formten sich Rebellengruppen, die das argwöhnisch beobachteten. Kurz vor deiner Geburt machte das Gefühl dieses Dings weiter im Kopf zu haben Papa so nervös, dass er die Kryptokia herausnehmen wollte. Er, na du weißt ja … war keine gute Idee. Er hat deine Geburt nicht mehr erlebt. Nach dieser Zeit gab es nur noch diese Implantate“, und sie strich über meine Narbe, „die uns mit Vitaminen versorgen. Das brauchen wir, weil es kaum noch Anbaumöglichkeiten für gesunde Nahrung gibt. Kryptokia hat fast alles zerstört, im Kampf um ihr Überleben.“
„Warte Suti, sei doch mal still“, unterbrach ich sie. „Hörst du das auch? Da kommt doch jemand.“
Mir stockte der Atem und wir verkrochen uns unter der Matratze. Es schien jemand hineinzuschauen, wir hielten die Luft an und kniffen die Augen zu – als ob das etwas geholfen hätte. Da sagte eine Frauenstimme leise zu einer anderen Person: „Nein, hier ist niemand!“, und es wurde wieder still. Wir blieben, wo wir waren und schliefen irgendwann zusammengekauert ein.
Am nächsten Morgen war alles wie immer, wir hatten viel Zeit. Üblicherweise suchten wir Essen und Suti brachte mir alles bei, was sie wusste. Immerhin war das mit der Gemächlichkeit besser als damals vor der Kryptokia, als es noch dieses Geld gab. Opa hatte Tonaufnahmen und ein paar Videos hinterlassen, in denen er von der alten Welt erzählte. Sie waren alle auf Mamas Datenbrille gespeichert. Eines der wichtigsten Worte war wohl „schnell“. Um das auszudrücken, gab es wohl die meisten Möglichkeiten auf der ganzen Welt:
„Beeil dich“, „aber dalli“, „flott“, „flugs“, „rasch jetzt“, „rapido rapido“, „fixe Nixe“, „tummelt euch“, „spute dich“, „hurti“, …
Dank Kryptokia wurde alles zur richtigen Zeit erledigt und der Stress verflog. Nach der Einpflanzung gab es auch nie mehr Engpässe und niemand hatte sich beschwert. Die Gefühle hatte Kryptokia schnell verstanden und beeinflusst, alles nur eine Frage der Hormonausschüttung. Sollte jemand eine Aufgabe machen, so empfand er dabei die absolute Freude, lachte und erledigte seine Aufgaben gewissenhaft und zuverlässig! Der Grundgedanke dahinter faszinierte mich wieder und wieder. Ich dachte oft darüber nach, ob es nicht gut war mit der Kryptokia verbunden zu sein, immerhin war man doch dann glücklich.
Ich hatte mich schon wieder in meinen Gedanken verloren, als mich meine Schwester anstupste: „Mir tut alles weh. Es schläft sich doch besser auf der Matratze als darunter!“
Wir mussten beide grinsen, ja sonderlich bequem war es die letzte Nacht nicht gewesen. „Ich habe ein schlechtes Gefühl wegen gestern. Seit wann sind Erwachsene hier draußen? Ich glaube wir sollten hier weg. Was denkst du, Lexi?“
Suti nannte mich bei meinem Namen. Das tat sie nur, wenn es wichtig war, aber es war einfach noch zu früh am Morgen, um Dinge zu entscheiden. Ich streckte mich, gähnte und ignorierte, was sie gesagt hatte. Langsam stand ich auf, täuschte an und rief: „Wer zuerst am See ist!“
Wir machten ein Wettrennen und ich rannte los. Meine Schwester war die schnellste Person, die ich je gesehen hatte, es war unmöglich ohne Tricks zu gewinnen. An diesem Tag war ich zuerst an der kleinen Pfütze, die wir liebevoll „See“ nannten. Es hatte sehr wenig geregnet, darum reichte es auch bloß für eine kleine Erfrischung im Gesicht.
Zurück am Flugzeug, blieben wir verwundert stehen. Da war etwas Weißes an der Seite. Es sah aus wie etwas Gemaltes. Das war neu. Das Weiß war von ein paar Regentropfen verwaschen und es war nicht zu erkennen. Ob das mit den Leuten von gestern zusammenhing?
Wir entschieden eine andere Unterkunft zu suchen. Neben dem Grund, dass man uns hier finden könnte, gab es noch einen anderen Grund. Wir merkten schon länger, dass uns die Nährstoffe aus den Implantaten ausgingen. Jetzt war dringend besseres Essen angesagt. Die Nährstoffzufuhr aus dem Implantat hielt etwa fünf Jahre. Die Müdigkeit schlug jetzt immer häufiger durch.
Aber wo sollten wir hingehen? Wir wussten nicht mehr viel über die Welt, denn unsere bestand gerade nur noch aus uns beiden und den Blechblumen und Skulpturen, die wir in den Mülltälern bauten und dort spazieren gingen wie in einem Park. Hugo und Elfriede waren aus allerlei Kram gebastelt, aber wir besuchten sie gerne. Von der restlichen Welt und deren Entwicklung bekamen wir seit etwa einem Jahr nichts mehr mit. Farid und die anderen Kinder kamen nicht mehr vorbei und wir wussten nicht, wohin sie gegangen waren. Vielleicht war ihnen etwas zugestoßen. Vielleicht war die Frau von gestern auch bei ihnen gewesen.
Von weitem sahen wir die hohen Glasgebäude der Stadt, umgeben von den alten, zerfallenen Häusern, die wohl niemand mehr herrichtete.
„Meinst du die Kryptokia gibt es noch?“, purzelte es auf einmal aus meinen Gedanken in meinen Mund, als wir an diesem Abend noch ein letztes Mal auf der Matratze lagen.
„Ich weiß es nicht!“, seufzte Suti. Natürlich wusste sie es nicht.
„Ich weiß, dass du es nicht weißt, aber was glaubst du?“, bohrte ich nach.
„Ich glaube, dass wir jetzt schlafen sollten“, Suti hatte ihre Augen bereits geschlossen.
„Ach Suti, wo ist Mama bloß hin? Meinst du wir sehen sie je wieder?“
Ich musste in letzter Zeit so oft an sie denken und war den Tränen nahe. Meine Schwester nahm meinen Kopf in ihre Hände und gab mir einen Kuss auf die Stirn.
„Ach Lexi, ich vermisse sie auch. Schlaf jetzt, kleines Schäfchen.“
So hatte mich Mama immer genannt, weil ich ständig kuscheln wollte und andauernd Kuschelpullover trug, außerdem malten wir immer weiße Schäfchen zusammen auf dunkle Schieferplatten. Mir lief eine Träne die Wange herunter, ich legte meinen Kopf auf ihre Brust und fühlte ihr Herz an meinem Ohr.
Am nächsten Tag ging es los. Wir nahmen die beiden Rucksäcke aus dem Flugzeug und packten Getränke und ein paar wenige Dinge ein. Mamas Foto, den Geldschein und die Brille steckte ich in meine Jackentasche, damit ich sie nicht vergessen konnte. Beim letzten Blick auf unser Zuhause, schauten wir uns still nickend an. Es war klar in welche Richtung es für uns gehen würde: Wir mussten herausfinden, wie das Leben in der Stadt inzwischen war.
Der Weg führte vorbei an unserem geliebten See, der heute ausgetrocknet kaum zu erkennen war. Ein letzter Gang durch den Skulpturenpark, vorbei an Hugo und Elfriede.
Nach ein paar Stunden kamen wir zu der Höhle, in der wir mit den Kindern einmal gewohnt hatten. Hier war es nach wie vor verlassen, aber für uns war es ein willkommener Platz zum Ausruhen. Die Wände waren mit Asche bemalt und Geschichten von Farid und den Kindern tauchten in unseren Köpfen auf. Hier gab es keine Anhaltspunkte für das Verschwinden, außer ein paar Steinen vor dem Eingang, die wohl mit weißer Farbe bemalt waren, auch sie waren vom Regen abgewaschen, hing das mit der Farbe bei uns am Flugzeug zusammen? Wir aßen unser letztes Essen, tranken unser letztes Wasser und zogen schnell wieder los.
Plötzlich klapperte ein furchtbar lautes und dreckiges Motorrad heran. Darauf saß jemand, der einen viel zu großen Helm trug. Ich klammerte mich an Suti und sie schob mich leicht hinter sich. Unsere Herzen schlugen heftig und wegen des aufgewirbelten Staubes hielten wir die Hände vor unsere Augen. Der Fahrer hielt an, lies das Motorrad augenblicklich fallen und riss sich den Helm vom Kopf und rief erstaunt und breit grinsend: „Suti und ihr kleines Schäfchen, na sowas!“ Es war Farid! Er sah gut aus, irgendwie richtig gesund.
„Farid! Wo kommst du denn her und wie kommst du an den Treibstoff für das Motorrad? Was passiert …?“, Suti hörte gar nicht auf mit den Fragen.
„Faaaarid“, rief ich dazwischen und rannte auf ihn zu, ein kleiner Schimmer Hoffnung regte sich in mir. Flüsternd kam ein: „Und die Kryptokia? Gibt es sie noch?“, zwischen meinen Lippen durch.
Und da war auf einmal Stille. Wir schauten ihn gespannt an und er blickte zum Boden.
„Ja, ich fürchte schon“, murmelte er leise, während sein Fuß ein bisschen Sand von einer Seite zur anderen schob.
„Und wo sind die anderen? Wie geht es ihnen?“, kam es ganz vorsichtig aus meinem Mund. Farid wollte nicht darüber sprechen, aber wir mussten wissen was passiert war. Er druckste herum.
„Nun sag schon!“, ich wurde ungeduldig, die Hoffnung verschwand so schnell, wie sie aufgekommen war.
„Also“, fing er an, „eine Frau hatte uns gefunden, das ist etwa ein Jahr her. Sie hat viele Dinge versprochen. Nach einer Abstimmung wollten die meisten mitgehen, daran glauben, dass sich etwas verändert hatte, dass es einen besseren Ort gibt als hier draußen. Am Ende sind sie alle mitgegangen, nur ich nicht. Ich habe mich versteckt und bin ihnen gefolgt. Zu Fuß den Spuren der Autos hinterher. Hat etwas gedauert. In der Stadt hab ich sie verloren. Nach ein paar Tagen habe ich ein paar von ihnen in einer Seitenstraße angesprochen und sie waren wie Zombies. Sie erzählten bloß, dass sie zu tun hätten und für mich gäbe es bestimmt auch etwas zu tun. Sie gaben Bescheid, dass man sich um mich kümmern sollte, indem sie die Augen verdrehten und wild blinzelten. Ich bin dann da weg so schnell ich konnte, schnappte mir dieses Motorrad und fuhr weiter raus. Eine Zeit lang habe ich mich versteckt gehalten, dann bin ich wieder in die Stadt geschlichen und habe versucht herauszufinden was los ist. Alle Menschen in der Stadt sind beschäftigt, langsam, aber unentwegt beschäftigt. Ja, ich bin sicher die Kryptokia ist wieder da und kümmert sich scheinbar jetzt auch um die Kinder.“
Wir hatten alles erwartet, aber das wollten wir nicht wahrhaben! Hieß das, wenn wir jetzt dahin gehen würden, würden wir auch zu Zombies werden? Da kam mir dieser Gedanke wieder.
„Aber sind sie denn glücklich? Sind sie denn in dem Zustand irgendwie glücklich? Vielleicht ist es schön, wenn man so zusammen gehört…“
„Lexi?!“, kam es von Suti und Farid gleichzeitig und ich wurde von beiden schockiert angeschaut.
„Wenn Mama noch da wäre, wüsste sie was zu tun wäre“, zuckte ich trotzig mit den Schultern und Tränen liefen mir die Wange herunter.
„Ich fahre mit dem Motorrad immer in die Stadt und besorge mir was zu Essen. Wenn wir uns genauso verhalten wie die anderen, dann bemerken sie gar nichts und das Essen ist umsonst. Egal was ihr braucht, es ist alles da. Geht es euch denn gut? Wo wolltet ihr denn hin?“, jetzt war Farid daran Fragen zu stellen.
„Ach, deswegen siehst du so gut aus… ähm, ich meine gesund, ich meine… Also was ich sagen will… Hast du was zu essen dabei? Unsere Implantate funktionieren nicht mehr!“, Suti war aufgeregter, als ich erwartet hatte.
Farid nickte verständnisvoll und setzte sich mit uns auf ein paar große Steine, wo wir seine Beute teilten.
Suti erzählte unsere Geschichte: „Am Flugzeug war auch eine Frau, sie hat uns aber nicht gesehen und irgendetwas hat jemand bei uns an die Wand gemalt. Der Regen hat es verwischt, wir konnten es nicht erkennen und wollten lieber dort weg. Vielleicht war es dieselbe Frau wie bei euch?“
Farid verstand sofort und bot an erst einmal zusammen zu bleiben und später im Dunkeln eine kleine Städtetour zu machen. Die Menschen waren alle früh zu Hause, um zeitig zu schlafen.
„Wir könnten uns umsehen und neue Vorräte besorgen“, das klang nach einem guten Plan von Farid. Es tat uns allen gut einen vertrauten Menschen zu treffen.
Als es dämmerte, versteckte Farid das Motorrad in der Höhle und wir gingen zu Fuß los. Suti und mich zog es automatisch zu unserem Elternhaus. Leise schleichend um Häuser und durch möglichst dunkle Gassen, gingen wir vorbei an den kleinen Häusern der Vorstadt in Richtung der großen Glasbauten. Hier, wo es sauberer wurde, aber noch die kleinen Häuser zu finden waren, stand unser Elternhaus. Je nach Anzahl Personen im Haushalt und Aufgabe, die man erfüllte, wurde einem ein Haus zugeordnet. Unsere Mutter war Biologin. Ich erinnerte mich wieder daran, während wir darauf zugingen. Es war klein, aber es reichte für eine dreiköpfige Familie. Es gab keinen Garten und nur ein Stockwerk. Die Fenster hatten damals kleine Gardinen mit weißen Schäfchen. Alle Nachbarn konnten früher durch den Glaseinsatz in der Haustür bis ans andere Ende des Hauses sehen und uns beim Abendessen winken. Die Tür hatte jetzt keinen Glaseinsatz mehr und an den Fenstern hingen dicke Vorhängen, die jede Sicht unmöglich machten.
Wir suchten eine Möglichkeit hineinzuschauen und fanden an der Seite ein Fenster, bei dem der Vorhang einen winzigen Spalt offen stand. Mein Herz klopfte plötzlich schneller und ich zupfte Suti an ihrem T-Shirt. Sie schien es auch gesehen zu haben. Mutter trug stets ein Armband, das wir als Kinder für sie geknotet hatten, ein halbes war von mir und die andere Hälfte von Suti. Mutter hatte es umeinandergedreht und gemeint so feste müssten wir immer zusammen halten.
Ich wollte am liebsten hineinrennen, war das hier echt?
„Nein Lexi!“, flüsterte meine Schwester. Plötzlich ging die Frau an das Fenster, dass hinter das Haus führte und öffnete es. Jemand kletterte hinein. Wir duckten uns und Farid machte Handzeichen, um ein Stück zurück hinter den Müllcontainer zu schleichen.
„Ist das eure Mutter?“, fragte er ungläubig. Er hatte davon gehört, dass es Rebellen gegen Kryptokia gab und diese Frau war scheinbar eine von ihnen. Nachdem wir weg waren und die Kryptokia wieder da war, gab es ein paar wenige, die immun waren. Diese Frau war ein Mythos, verschwunden vor ein paar Jahren und nur hier und da gesichtet. Man sagte sie habe zwei Töchter, die ihr weggenommen wurden. Während er alles erzählte, schaute er neugierig zwischen uns beiden hin und her.
„Wenn das eure Mutter ist, dann … Wir sollten …“, ich hörte seine Worte nicht mehr und lief einfach zur Tür und öffnete sie, denn dank der Kryptokia durfte niemand die Türen mehr abschließen, hatte uns Farid beim Essen erzählt. Ich wollte zu meiner Mutter, ganz dringend, unbedingt, jetzt!
Da stand ich auch schon im Türrahmen und sah sie an. Stille, Zeitlupe, keine Bewegung, nur ihre Augen. Der Mann neben ihr war groß, schlank und kam in großen Schritten auf mich zu und schloss die Tür.
„Hat dich jemand gesehen? Sag schon?“, er rüttelte mich etwas zu fest an den Schultern und ich fing an zu stottern: „Suti und Farid, sie…“, ich unterbrach mich, was tat ich hier bloß? Die Frau stand auf und kam auf mich zu. Sie sah aus wie unsere Mutter, konnte sie es wirklich sein? Ihre Haare waren streng hochgesteckt, so hatte ich sie früher lediglich bei der Arbeit gesehen. Sie hockte sich vor mich und leise kam aus ihrem Mund „Kleines Schäfchen“, und eine Träne kullerte ihre Wange hinunter. Ich fiel ihr um den Hals und fing schluchzend an zu weinen.
„Hast du meine Nachricht bekommen?“, fragte sie, während sie mir die strähnigen Haare aus dem Gesicht strich und mich immer wieder im Wechsel drückte und ansah.
„Nein, welche Nachricht?“, ich wusste nicht, wovon sie sprach.
„Ich habe euch überall gesucht und in den letzten Jahren mit weißer Kreide Nachrichten hinterlassen. Kleine weiße Schäfchen.“ Sie schaute mir tief in die Augen und wurde ernst. „Was ist mit deiner Schwester geschehen?“
„Sie ist draußen mit Farid, wir wussten nicht, aber ich bin einfach… “, stammelte ich erneut. Mutter winkte ihrem Begleiter zu, der durch das Fenster hinauskletterte, durch das er gekommen war und um das Haus schlich. Er brachte Suti und Farid wieder auf diesem Weg herein und verriegelte die Tür jetzt von innen.
„SUTI!“, rief Mama, lief zu ihr und umarmte sie wie ein Wirbelsturm. „Ihr seid so groß geworden Mädchen. Endlich hab ich euch wieder!“.
„Das sind sie? Wir haben keine Zeit mehr, habt ihr die Brille?“, drängelte Pike, ihr Gefährte.
Ich holte sie aus meiner Jacke und wollte sie gerade Mutter geben, da brach die Tür ein und mehrere Männer stürmten brüllend in das Haus. Sie hatten riesige, eckige Hüte auf und auf ihren Lederjacken prangte ein riesiges goldenes „K“. Sie bewegten sich wie Maschinen und im Gleichschritt. Mutter schrie laut auf und schob uns hinter sich und ich steckte die Brille wieder zurück. Pike half Suti und Farid aus dem Fenster, doch bevor er mir auch helfen konnte, hatten sie mich schon gepackt. Mutter und ich wurden auf den Boden gedrückt, wir wehrten uns und wir schrien. Pike sprang aus dem Fenster und die drei rannten.
Die Männer legten uns verrostete Handschellen an und wir fuhren mit einem dreckigen, verstaubten Quad zu einem der riesigen, sterilen, weißen Gebäude mit viel Glas. Dort warf uns ein riesiger Mann, mit Glatze und Nadeln im Gesicht über die Schulter und stampfte schwerfällig hinein. Wir zappelten und kreischten, aber es half nichts. In einer großen Halle, ließ er einfach los. Der Aufschlag auf dem Boden war hart, mir tat alles weh. Ich weinte und klammerte mich an meine Mutter. Direkt vor uns stand eine schlanke Frau mit einem langen Ledermantel, der mit Ketten behangen war. Ihre kurzen störrischen Haare standen ihr wie Blitze vom Kopf ab. Ihr Blick war durchdringend und mein Herz gefror, als ich sie ansah. Ohne ein Wort zu sagen, zerrten sie uns auseinander und brachten mich weg und schlossen mich in einem dunklen Raum ein. Ich hörte Mutter rufen, kauerte mich zusammen und weinte. Irgendwann schlief ich vor Erschöpfung ein.
Als ich aufwachte, war das Zimmer immer noch dunkel, aber durch einen kleinen Schlitz konnte ich sehen, dass der nächste Tag angebrochen war. Auf einmal rappelte es an der Tür. Dann Stille. Langsam öffnete sich die Tür. Ich hörte ein Quietschen und ein Flüstern: „Verdammte Tür!“
Und jemand zog eine Person, die am Boden lag, hinter sich her in diesen Raum.
„Los, hilf mir schon! Ich bin‘s Pike!“
Ich lief zu ihm. Das am Boden war wohl die Wache vor meiner Tür. Pike erklärte mir er würde mich hier rausholen und fragte wieder nach Mamas Datenbrille. Ja klar, die hatte ich noch in meiner Jackentasche! Was hatte er nur immer mit dieser Brille?
Wir schlossen die Tür und verließen das Zimmer. Draußen war es merkwürdig still. Hier war niemand mehr. Ich folgte ihm langsam durch das große Gebäude zu einem riesigen Serverraum.
Dort erklärte mir Pike kurz angebunden, dass er Hacker war und mit meiner Mutter zusammenarbeitete. Sie waren kurz davor die Kryptokia endgültig zu zerstören. Jahrelang hatten sie daran gearbeitet und einen Weg gefunden. Die Ursprungsversion, die freie Version, wurde von vielen Menschen entwickelt, sie war am Anfang komplett Open Source. Bereits da waren Pike und ein paar seiner Kollegen skeptisch gewesen und entschieden sich ein paar Hintertürchen einzubauen. Er hatte unsere Mutter dann als Biologin getroffen, da war ich gerade drei Jahre geworden. Während die Rebellen sicher waren, dass die Kryptokia wieder auflebte, ließ Mutter sich auf ein Experiment ein, das sie immun machen würde. Und es hatte funktioniert. Das war kurz bevor sie verschwand, denn dann wurden die beiden fast erwischt und sie mussten untertauchen. Die anderen Rebellen liefen jetzt wie Zombies durch die Straßen.
Es waren lange fünf Jahre für alle! Ihre Mutter sei vor Sorge um ihre Kinder immer wieder Risiken eingegangen und fast verrückt geworden. Das Problem war allerdings auch die Datenbrille, ohne sie würde es nicht gehen.
„Den Schlüsselcode, um die Kryptokia unschädlich zu machen, haben wir auf der Brille eurer Mutter versteckt und sie sagte, ihr hättet die Brille sicher mitgenommen. Wir suchen euch, seit sie euch weggebracht haben! Natürlich nicht allein wegen der Brille, aber ohne sie sind wir alle verloren. Ich hoffe, ihr habt sie nicht kaputt gemacht!“, beendete er seine Ausführung mit einem kritischen Blick.
Pike nahm die Brille und schraubte sie auseinander. Er schloss die Platine an ein paar Geräte an und drückte viele Knöpfe. Irgendwann sagte er: „Durch diesen Hack wird die Kryptokia hoffentlich unschädlich gemacht. Das war’s, los jetzt, wir müssen hier weg! Deine Mutter wartet unten!“
Wir schlichen durch die Gänge, hier war niemand. Aber von draußen hörten wir Lärm und Schreie. Wir rannten die Treppe runter. Unten stand meine Mutter, mit blau geschlagenem Auge, mit Wunden am ganzen Körper und zerrissenen Kleidern. Trotzdem umarmte ich sie stürmisch und sie verzog das schmerzvolle Gesicht zu einem kleinen Lächeln.
„Wir bringen sie zu einem Freund. Pack mit an. Die anderen sind draußen, sie halten die Wachen in Schach. Hoffen wir, dass es klappt.“
Pike öffnete die Tür. Hier draußen wütete eine wilde Schlacht. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Menschen versteckten sich und schossen mit verschiedenen Waffen aufeinander. Einige verursachten riesige Löcher, andere gaben einen furchtbaren Ton von sich und wir hielten uns die Ohren zu. Wer die Guten und wer die Bösen waren, konnten wir kaum erkennen, es war ein einziges Durcheinander. Es gab viele Männer mit Lederjacken und dem großen goldenen K. Aber auch viele der sonst so langsamen Zombies hatten Waffen in den Händen.
Ich hatte so etwas noch nie gesehen und war erstarrt. „Wir müssen hier weg!“, schrie Pike mich an. Doch bevor er uns weiterziehen konnte, war es plötzlich still. Gegenstände fielen zu Boden und niemand bewegte sich.
„Der Reboot!“, flüsterte Pike. „Ich hoffe es funktioniert! Geht weiter!“
Wir bewegten uns zwischen den menschlichen Statuen und ich sah das Ende der Straße, dort stand das Fahrzeug auf das Pike zusteuerte. Plötzlich fingen die Menschen an sich zu bewegen. Sie schauten sich um, tasteten an sich hinunter, und ihr Blick wurde immer klarer.
Plötzlich schrie jemand: „Lexi, seid ihr das?“
Suti kam angerannt und direkt hinter ihr Farid. Sie sahen furchtbar mitgenommen aus. Mama lächelte und Pike stützte sie fester, weil ich losließ und Suti heftig umarmte.
Farid atmete schwer: „Hat es geklappt? Wir haben echt alles probiert, damit ihr genug Zeit hattet! Da war diese furchtbare Frau, die bei uns an der Höhle war und dieser riesige Kerl mit diesen Dingern im Gesicht. Aber auf einmal haben sie sich nicht mehr bewegt, seht ihr, da hinten stehen sie!“ Wir erschauderten bei ihrem Anblick.
Farid half Pike mit Mutter und ich stützte Suti so gut ich konnte. Wir setzten unseren Weg fort, vorbei an immer mehr Menschen, die anfingen sich zu bewegen. Menschen – keine Zombies! Ich holte den Geldschein aus meiner Tasche und hielt ihn hoch. Ich blinzelte ihn gegen die Sonne an, wie in jenem Moment, als ich ihn Suti weggeschnappt hatte und sagte zu ihr: „Vielleicht kann ich ihn ja jetzt doch noch brauchen!“