Der letzte Schein
Es ist überall. In den traurigen, kläglichen Resten des Fernsehens. Zwei Indie-Sender, mehr sind es nicht. Online-Nachrichten. Illegale Piratenradiosendern. Im Internet. Jedem Forum. Jedes zweite Video. Und bei denen, die nicht davon handeln, ist Werbung dazu geschaltet. Es ist das Ereignis. DAS Ereignis.
„Haben Sie es schon gehört? DAS Ereignis!“
„Sie wollen nicht im Büro übergangen werden, weil Sie nicht da waren!“
„Heute Abend. Auf allen Kanälen.“
„Überall!“
„Oder Live dabei! Sender WholeW27/7 verschenkt drei Tickets.“
„Die letzten Tickets, die offiziell noch zu haben sind! Wer dabei sein will, hat noch hier eine Chance!“
„Oder kann versuchen seine Nieren dafür zu verkaufen!“
„So oder so, viel Glück. Im Notfall ist noch immer der Schwarzmarkt für alle da.“
„Viel Spaß dabei eure Strafakte aufzupimpen für diesen Anblick. Ich für meinen Teil würde sagen, dass es das wert sein wird!“
Natürlich wird es kaum möglich sein ein Ticket zu bekommen. Das weißt du. Trotzdem verschwendest du einiges deiner Zeit darauf dich danach umzusehen. Man könnte ja Glück haben und irgendein verzweifelter Depp verkauft ein Ticket viel zu günstig. Oder verkauft überhaupt eines. Du hast dir gedanklich noch gar kein Limit gesetzt, was du bereit wärst auszugeben, hast ja schließlich keine Hoffnung ein Ticket zu bekommen. Aber da ist ein kleines Hirngespenst in der letzten Vernetzung in deinem Hirn, das dich dazu zwingen würde jeden Preis zu zahlen. Der Zwerg ist gierig darauf Teil dieses großen Events zu sein. Du musst es dir nicht beweisen, wirst du dir dann denken, aber damit angeben zu können bei diesem Once-in-a-lifetime-Event dabei zu sein, das würde dir gefallen. Und selbstverständlich wird das seinen Preis haben, das ist dir klar. Vielleicht wird es dich mit etwas Glück nicht dein letztes Hemd kosten, du wirst noch deine Miete und Essen kaufen können, du wirst nicht von den Billig-Substitutionen für den Rest des Monats leben müssen, aber günstig wird es trotzdem nicht werden. Aber du bist bereit tief in die virtuellen Taschen zu greifen. Du bist bereit zu zahlen. Koste es, was es wolle. Solange du nur ein Ticket finden kannst.
Finden würdest.
Finden könntest.
Kannst du nur leider nicht. Es gibt keins. Du hast es dir gedacht, als du mit der Suche angefangen hast. Du hast es umso intensiver gewusst, als die Stunden verstrichen sind. Stunde um Stunde. Minute um Minute. Tick. Tack. Dein persönliches Rennen gegen die Zeit. Es war zu knapp. Wie ein Drogenspürhund warst du hinter allen Hinweisen, allen Möglichkeiten, her gewesen, die dein Hirn im Rausch von Energy und ein paar Pillen ausgespuckt hat. Du hattest keine Zeit langsam in Fahrt zu kommen. Du brauchtest die Antworten sofort und auf der Stelle. Keine Chance zu warten. Mit dem Warten hättest du deine Chancen nur selbst künstlich verringert.
Wäre dumm gewesen.
Dumm warst du nicht in den Stunden. Du bist aber so leer ausgegangen, wie du vermutet hast. Schade. Wenigstens muss dein Kontostand nicht weinen. Dafür deine Online-Präsenz, die keinen Push bekommen hat, der sich automatisch auf dich selbst überträgt.
„Und damit ist auch die letzte Karte weg! Viel Spaß damit, lasst euch auf dem Weg zum Event nicht überfallen!“
Und auch die Chance auf ein Sender-Ticket ist gestorben. Die Bot-Welle, die du für ein paar Kröten, die du dir nebenbei aus dem Arm geschüttelt hast, auf sie gejagt hast, um dir deine kleine, anrufende Privatarmee auf Zeit zu kaufen, war nicht erfolgreich. Schade drum.
So ist es einfach nicht dasselbe, denkst du dir. Du bist schon ein wenig angeschwippst, das hält dich aber nicht davon ab immer wieder und wieder die Dose an deine Lippen zu setzen, während du auf die Fernsehwand starrst. Über die Länge deiner Wohnung hinweg. Es brennt dir fast die Netzhaut weg, es beschallt dein Trommelfell. Aber du änderst nichts daran.
Emotionslos, noch immer tief enttäuscht von dir selbst, starrst du auf den Bildschirm und siehst zu. Es ist nicht unbedingt das Verpassen des Live-Events, das dich gerade so stört. Die Jagd nach einem Ticket hat einen Blutdurst in dir geweckt, der schneller versiegen musste, als dein Kopf zuzugeben bereit war. Du willst noch weiter suchen, überlegst konstant, ob du es nicht hättest anders angehen müssen. Ob du es nicht doch irgendwie hättest schaffen können. Die Jagd ist vorbei, die Tickets vergeben und verschwunden, aber dein Kopf will nicht aufhören. Es ist so verdammt nervig. Aber immerhin hilft hier der Alkohol.
In einer Großaufnahme wird durch die Menge gefilmt, die Feiernden sind Menschen in ihrer besten Kleidung. Ob sie sich von sich aus so herausgeputzt haben? Oder es ihnen aufgetragen worden ist, fernsehperfekt auszusehen? Ob man sie sonst nicht an den Ort gelassen hätte? Nicht so unwahrscheinlich, wie du findest. Ist schon öfter vorgekommen. Nicht dass jemand etwas dagegen sagen würde. Jemals. Keine Chance.
Die Innenstadt ist geschmückt, voller Lichter. Es erstrahlt in einem Glanz, den man gar nicht kennt. Und das nur, weil die gesamte Welt zuschaut. Weil Kamerateams von überall her angereist sind, um diese wenigen Stunden einzufangen.
Danach wird alles wieder wie ein Slum aussehen. Sobald niemand mehr so genau hinschaut, wie viele Arbeitssklaven sich unter dem nicht mehr existenten Mindestlohn verkaufen, um wenigstens eine Mahlzeit am Tag zu bekommen. Es wird wieder schmutzig und dunkel sein. Laut und erschreckend leise zugleich. Man wird sich selbst auf den Hauptstraßen fürchten unterwegs zu sein und sobald die Dämmerung hereinbricht, sollte man besser den Weg nach drinnen gefunden haben, wenn man nicht an der nächsten Straßenecke ausbluten will. Diese Stadt ist alles andere als schön. Genau genommen ist sie sogar zum Kotzen.
Jetzt erwischst du dich aber dabei, dass es hübsch ist. Zu hübsch. Verschiedene Schwenks über die Stadt, im Hintergrund irgendeine Berichterstattung. Und dann ist sie endlich da: das, was du aus der Nähe sehen wolltest. Noch eine ganze Weile lang wird über die Szenerie geschwenkt, nur Szenerie, Bilder des Scheins. Und dann die Nahaufnahme.
Die Nahaufnahme, auf die jeder gewartet hat.
Du kannst nicht anders: du hältst den Atem an.
In langen Reihen, gleich einer Zeremonie wird er hereingetragen. Ein Stück Papier. Es sieht mitgenommen aus. Die Ränder schon eingerissen, insgesamt ziemlich schmutzig und abgegriffen. Selbst ohne Nahaufnahme war zu erahnen durch wie viele Hände dieses Papier gegangen sein musste. Zeitgleich mit dem Kommentator murmelst du vor dich hin: „Der letzte Schein.“
Du selbst hast nie einen vor dir gesehen. Geschweige denn einen in der Hand gehalten. Wie sich so ein Schein wohl anfühlen mag? Physikalisches Geld war so gut wie ausgestorben gewesen. Aber auch nur so gut wie. Ein paar Leute hatten sich daran festgeklammert. Hatten es immer wieder benutzt, hatten einzelne Geschäfte genötigt weiter damit zu zahlen. Und es hatte eine Ewigkeit gedauert diese Währungen aufzuspüren.
Man hätte sie auch einfach ignorieren können, denkst du dir. Sie wären einfach nicht mehr von Wert gewesen. War doch egal bei so wenigen Überbleibseln.
Aber man hatte alle gesucht und es zu einem Event gemacht. Und jetzt verabschiedeten sie weltweit das physikalische Geld. Den letzten Schein.
Du siehst mit an, wie das Papier an einer Feuerwerksrakete befestigt wird. Ein Countdown in einem Chor unendlich vieler Stimmen beginnt. Es jagt dir einen Schauer über den Rücken. Es klingt gigantisch. Es hat etwas Mitreißendes. Du murmelst die letzten Zahlen mit. Es schüttelt dich. Du erlebst aktiv einen Teil Geschichte. Du kannst es spüren, sonst war es nie so klar erkennbar für dich. Zum Ende des Countdowns schießt die Rakete mit einem Zischen in die Höhe. Einen roten Schweif hinter sich herziehend schießt sie davon. Alle Kameras folgen ihr. Jeder legt den Kopf in den Nacken und sieht ihr nach. Sie wird kleiner und kleiner und verschwindet im dunklen Himmel. Panisch werden die Kamerawinkel gewechselt, hin und her geschaltet, bis sie wieder im Bild ist.
Höher und höher steigt sie. Sie wird langsam. Und für einen ganz kurzen Moment sieht es so aus, als würde sie stehen bleiben. Die Zeit stoppt. Und bevor sie wieder zu Boden fallen kann, die Explosion. Ein Knallen. Es ist gewaltig. Laut. Erschütternd. Begeisternd. Und bunt. Unglaublich bunt. Nach der ersten Explosion wird eine Reihe an Feuerwerk in einer Kettenreaktion losgetreten. Und der Nachthimmel wird hell, Bilder, Schriftzüge, Sterne erstrahlen. Leute klatschen, rufen, umarmen sich. Musik fängt an zu spielen. Ausgelassene Stimmung schwappt über alle und reißt jeden mit, ob man will oder nicht.
„Leute, Leute, das war es!“
„Ich hoffe, ihr habt es alle gesehen und seid nicht zuhause eingeschlafen. Denn ihr könnt eure Bitcoins darauf verwetten, dass ihr keine Wiederholung mehr bekommt. Das war der letzte Schein auf dieser Welt, das physikalische Geld ist abgeschafft!“
Die aufgeregte Stimme des Kommentators kämpft gegen die Lautstärke an. Deine Aufmerksamkeit verschiebt sich bereits wieder zu anderen Dingen, du stellst die Lautstärke runter.
„Das war der letzte Schein. Nie wieder wird es einen wie diesen geben!“
Und als das Fernsehen stumm ist, ist es auch schon wieder uninteressant. Das Event ist vorbei und so relevant geworden wie physikalisches Geld.
Vorbei und ausgestorben.