Der Auftrag
Der Boxsack vibrierte, die Kette klirrte metallisch, als er mit einer Links-Rechtskombination darauf einhämmerte. Ein Jab, ein Punch, ein Schwinger zur Niere. Er verlagerte sein Gewicht auf den hinteren Fuß und trat den Boxsack frontal. Der schwang fast einen halben Meter weg, kam dann zurück. Er fing ihn auf, hielt sich daran fest. Er hatte zu fest zugetreten. Während sein Fußgelenk pochte und seine Lunge Sauerstoff durch seine Nase pumpte merkte er, wie die Anspannung seiner Kiefermuskulatur endlich nachließ. Sein neuester Auftrag war anders, nicht der übliche Personenschutz, weniger gefährlich und doch…
„Finden Sie nicht auch, dass sie die beste Wahl dafür sind?“, hatte der CEO gefragt, während er aus dem Fenster seines Büros die kleineren Türme unter sich ansah, als würde er prüfen, ob sie nicht vielleicht gewachsen wären. Eine rhetorische Frage. Karl Baumgart, CEO von TheFace Europa, stellte gerne Fragen auf die er keine Antwort wollte. Als er zum CEO zitiert wurde, hatte er mit allem möglichen gerechnet, aber nicht damit.
„Haben Sie ein Problem damit? Oder einen besseren Vorschlag, Herr Schütz? Darf ich Sie Marvin nennen?“, fragte Baumgart ein weiteres Mal. Er drehte den Kopf über die linke Schulter, um ihn anzuschauen. Seine Hände locker in den Taschen stand er betont lässig da. Aber Marvin konnte die Anspannung in seinen Schulterblättern sehen, die Knie durchgedrückt. Es machte eher den Eindruck, als stände der CEO mit dem Rücken zur Wand, als an der Fensterfront eines riesigen Büros im 50. Stock.
„Nein, Herr Baumgart. Ich denke nur über etwaige Komplikationen nach“, sagte er so locker es seine Anspannung zuließ. „Was, wenn etwas auf TheFace zurückfällt?“ Baumgart schaute wieder durch das Fenster, suchte den Horizont ab. „Das wird nicht passieren. Wir werden Sie entlassen. Wenn der Auftrag erledigt ist, beschaffe ich Ihnen einen anderen Job. Mit großzügigem Gehalt, extra Bonus. Wenn Sie Mist bauen und erwischt werden, werden wir für einen ordentlichen Anwalt sorgen. Auf geistige Unzurechnungsfähigkeit plädieren, Verantwortung des Unternehmens gegenüber einem ehemaligen Mitarbeiter, an dessen geistigen Zusammenbruch die Entlassung Mitschuld hatte, und so weiter.“ Baumgart drehte sich zu ihm, fixierte ihn mit seinen Augen, seine geballten Fäuste spannten den Soff des teuren Anzugs. „Aber, Marvin … Sie vermasseln es doch nicht, oder?“
Marvin senkte den Blick.
„Ich werde kündigen“, sagte er. Baumgartens Konzentration war für einen Augenblick gebrochen. „Ist die bessere Story“, fügte Marvin hinzu.
Zwei Wochen später saß Marvin im Zug nach Brandenburg. Seine Augen sprangen von Baum zu Baum, während er an ihnen vorbeiraste, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Er prüfte seine Geschichte in Gedanken ein weiteres Mal, konzentrierte sich auf die Lügen, die Wahrheiten, die Konfrontation. Aber sein Geist wandertes immer wieder fort, zu den Orten und Zeiten, die hierhin geführt hatten. Die Ankündigung der EZB Kryptowährungen als Parallelwährungen zu erlauben. Die Trennung seiner Eltern. Der Abbruch seines Informatikstudiums. Seine Mutter war nicht perfekt. Wer war das schon? Aber sie hatte ihn immer unterstützt, war immer stolz auf ihn. Vielleicht nicht heute, nicht bei dem, was er vorhatte. Aber davon musste sie nichts erfahren. Er schloss die Augen, konzentrierte sich auf seinen Atem, beobachtete ihn, ließ ihn fließen. Während seine Atemzüge langsamer und ruhiger wurden, lockerten sich seine Schultern, gaben sich der Schwerkraft hin. Die Vergangenheit, die schmerzhaft seinen Magen zusammendrückte verlor an Kraft. Er legte die Hände ineinander und versank in Meditation.
Wenige Stunden später stand er am Ziel seiner Reise. Das autonome Taxi wartete geduldig mit laufender Uhr vor einem großen, verschnörkelten Tor. Efeu und Kirschlorbeer umrankten um den Zaun, der sich in die Ferne zog. Dahinter konnte er Kornfelder sehen. Die verrosteten Eisen des Tores sprachen gleichzeitig von Beständigkeit und Vergänglichkeit. Als leisteten sie Widerstand gegen den sich permanent neu erfindenden Großstadtglanz. Sie weckten Erinnerungen an ein anderes, fast vergessenes Leben.
Das Taxi fragte ein weiteres Mal, wie er zahlen wolle. Er schaute auf sein Handy. Er wunderte sich ein wenig, dass der erste Eintrag in der Liste der Währungen Digni war. Dann wählte er Carpe, TheFace‘s Kryptowährung, nahm seine Tasche und stieg aus. Er ging näher ans Tor, wo er eine kaum sichtbare Klingel fand. Er holte kurz Luft, bevor er sie drückte.
„Es ist bereits jemand auf dem Weg“, beschied eine Stimme aus dem Lautsprecher. Nicht überraschend. Er sah nach oben in die Kamera, die er bereits vor der Klingel entdeckt hatte, hob seine Hand und winkte kurz. Ein paar Sekunden später sah und hörte er bereits eine Art Golfkart auf sich zu surren. Als er erkannte, wer in dem Golfkart auf ihn zu kam, öffnete sich das Tor leise quietschend nach innen, als wolle es ihn willkommen heißen.
Die kurzen weißen Haare des Fahrers standen in alle Richtungen und waren mittlerweile so spärlich gesät, dass man die Kopfhaut darunter sehen konnte.
„Schön dich zu sehen.“, sagte der Fahrer, während Marvin einstieg.
Ein knappes „Hallo“ war alles, was er erwidern konnte. Es war so lange her, die Mauern zu dick, als dass er es schaffte ihn “Vater“, „Papa“ oder Neudeutsch „Dad“ zu nennen. Er fragte sich, ob er seinen Vater sich jemals über etwas hatte freuen sehen. Sorgenfalten prägten sein alterndes Gesicht mehr als Lachfalten.
„Wie geht es dir so?“ versuchte sein Vater das Gespräch wieder zu eröffnen, während sie auf das entfernte Haupthaus zufuhren. Es war eine Floskel. Eigentlich wollte sein Vater wissen, warum er hier war.
„Ich habe meinen Job gekündigt und brauche einfach mal eine Pause“, war die Antwort.
„Welcher Job war das? TheFace?“
Marvin nickte nur.
„Hast du doch noch ein Gewissen entwickelt?“, fragte sein Vater.
Marvin sah ihn von der Seite an und schwieg für den Rest der Fahrt.
Im Haupthaus übergab ihn sein Vater an Hartmut, der ihm sein Zimmer im ersten Stock zeigte.
„Abendessen um 19:00 Uhr, im großen Saal. Und wenn du sonst was brauchst, komm einfach runter zu mir. Du findest mich meistens in der Küche“, verabschiedete sich Hartmut.
Marvin warf seine Tasche aufs Bett und ging zum Fenster. Die rauen Holzdielen unter seinen Füssen waren uneben und gaben knarzend nach während er gedankenlos zum Fenster ging, um über die Felder zu sehen. Erst jetzt nahm er wahr, wie es in seinen Adern pochte, seine Knie leicht zitterten. In seiner Aufgabe als Bodyguard konnte Marvin mit der chemischen Reaktion seines Körpers umgehen, sie sogar nutzen. Sie erhöht die Reflexe, verleiht Kraft. Aber hier brauchte Marvin seinen Verstand, nicht seine Muskeln. Er zog seine Sportkleidung an, ging nach draußen und gab dem Adrenalin einen physischen Ausweg.
Das Abendessen war, wie er es erwartet hatte: viele Menschen an vielen großen Holztischen. Vegetarische Gerichte, Gemüse, Pasta, Salat. Er saß neben Hartmut, der ihm erzählte, was sie hier alles selbst anbauten und wie sie gemeinsam arbeiteten. Marvin bemühte sich dabei aufmerksam zu wirken. Sein Vater kam später, als sie mit dem Abendessen fast fertig waren. Er winkte ihn von der Tür aus zu sich.
„Lass dein Geschirr ruhig stehen, ich kümmere mich darum.“, meinte Hartmut.
Marvin nickte ein knappes Danke und ging zu seinem Vater. Er führte ihn in eine Art Bibliothek. Die Wände waren von Bücherregalen verdeckt, schwere Ohrensessel standen verteilt im Raum und ein dicker, warmer Teppich lag auf dem Boden. Auf einem alten Eichensekretär, der offensichtlich nicht mehr zum Schreiben verwendet wurde, standen ein paar Flaschen Wein. Sein Vater schenkte zwei Gläser Rotwein ein, drückte Marvin eins davon in die Hand und setzte sich. Marvin setzte sich neben ihn. Gemeinsam studierten sie die Bücherwand.
„Und? Programmierst du noch?“. Sein Vater versuchte das Eis zu brechen.
„Nein.“, antwortete Marvin.
„Warum hast du dein Studium auch hingeworfen? Du hättest so viel erreichen können.“ Die Enttäuschung seines Vaters war wie ein Schlag in den Magen.
„Es war dein Traum. Nicht meiner“, antwortete Marvin. Er versuchte den Kloß in seinem Hals mit einem Schluck Wein hinunterzuspülen und fügte noch an: „Ich bin endlich aufgewacht.“
Sein Vater nahm ebenfalls einen Schluck Wein.
Die Bücherwand musste weitere Minuten intensives Studieren ertragen.
“Ich habe es bei dem Kraken nicht mehr ausgehalten.“, erklärte sich Marvin. Es fiel im schwer zu lügen. Auch, wenn er dabei so nah wie möglich an der Wahrheit blieb. „Der Job war gut. Aber die Firmenpolitik, naja, sie sind schon sehr gierig. Auch wenn man nur ein kleines Rädchen im Getriebe ist, ist man irgendwie doch Teil des Problems.“ Marvin leerte sein Glas und stand auf, um es wieder aufzufüllen. Er war jetzt ruhiger, als bei seiner Ankunft. Das Laufen hatte geholfen. „Wie läuft es mit deiner Kryptowährung?“, warf Marvin ein, als wolle er vom alten Thema weg. „Wie heißt sie? Digni? Abkürzung für Dignity? Ist das nicht ein wenig abgedroschen?“ Solche Vorwürfe dürfte sein Vater öfter hören. Die Stichelei würde von seinem eigentlichen Interesse ablenken.
„Es läuft sehr gut“, entgegnete sein Vater. „Wir haben hohe Zuwachsraten. Und die wenigsten machen sich Gedanken um den Namen. Der Inhalt zählt.“
Marvin setzte sich wieder.
„Und was macht eure Währung besser als andere?“, hakte Marvin nach, als ob er es nicht wüsste.
Sein Vater nippte an seinem Wein.
„Der Digni ist kein Schuldgeldsystem. Er entsteht nicht bei Kreditvergabe, sondern er entsteht mit den Menschen. Mit unserer Währung investieren wir in uns selbst. Wir investieren in Menschen, nicht in Produkte und Wachstum, wie die anderen Währungen. Das stabilisiert unsere Wirtschaft und gibt den Menschen Sicherheit.“
Dem konnte Marvin kaum etwas entgegensetzen.
„Dann bleibt mir ja nur noch, dir zu gratulieren, dass dein Lebenstraum wahr wurde. Ist deine Infrastruktur wenigstens sicher, oder hast du immer noch alles auf einem Server im Keller, weil du der Cloud nicht traust?“ Eine weitere Spitze, um sein Vorhaben zu verschleiern.
Sein Vater leerte sein Glas und stand auf.
„Komm mit, ich zeig dir den Server.“
Der Keller war kühler, als erwartet. Sie standen vor einer Feuerschutztür, die die gleiche graue Farbe wie die dicken Wände hatte. Er konnte bereits das Surren der Lüfter und Kühler hören. Während sein Vater aufschloss, sah sich Marvin um.
„Keine Kameras?“
„Nein, wozu?“, war die Antwort.
Der Server war eine kleine Serverfarm. Es waren drei mannshohe Racks, die fast vollständig mit Servern und Switches belegt waren. Hunderte von Kabel verbanden alles wild miteinander. Marvin konnte ein Staunen kaum verhindern, schüttelte aber sofort den Kopf.
„Das geht nicht gut hier, du musst in die Cloud“, platzte es aus ihm heraus. Sein Vater ignorierte ihn.
Es war 02:30 Uhr, als Marvin aufstand. Er zog seine dünnen Boxschuhe an, mit deren Hilfe er sich fast lautlos bewegen konnte. Er packte das EMP-Gerät in eine kleine Tasche. Es war kaum zehn Zentimeter im Durchmesser, drei Zentimeter dick und sah aus, wie eine kleine schwarze Kabeltrommel. Wenn es aktiviert würde, würde es einen Impuls erzeugen, der sämtliche Elektronik im Haus kurzschließen würde. Er schlich in den Keller hinunter. Im Laufe des Tages hatte er sich bereits mit jeder knarrenden Diele vertraut gemacht und konnte sie so vermeiden. Obwohl er sicher war, dass alle im Haus tief und fest schliefen, bewegte er sich geduckt und glitt wie ein Schatten. Er schlängelte sich durch das Treppengeländer in die nächste Ebene, statt die Stufen zu nehmen und stand Sekunden später vor der Feuerschutztür zum Serverraum. Das Schloss der Tür konnte dem Dietrich und seinen geübten Händen nichts entgegensetzen. Schnell und präzise platzierte er die Bombe unter einem der Server-Racks, im Chaos der Kabel, wo sie kaum auffallen würde. Er ließ den Raum so leise wie er gekommen war und eilte in sein Zimmer zurück.
Marvin blieb einen weiteren Tag, um keinen Verdacht zu erregen. Aber dann verließ ihn die Kraft. Es fiel ihm schwer seinen Vater zu belügen. Oder überhaupt mit ihm zu reden. Nach dem Frühstück holte er seine Tasche aus dem Zimmer und trat seinem Vater ein letztes Mal gegenüber. Die Augen seines Vaters suchten den Boden angestrengt nach einer angemessenen Antwort ab.
„Mir war klar, dass du nicht ewig bleiben würdest, aber mehr als zwei Tage hatte ich mir doch erhofft.“
Es kam Marvin vor, als wolle er ihn mit purer Willenskraft hierbehalten.
„Wir gehen mit unseren Servern doch in die Cloud. Wir werden wohl in etwa ein bis zwei Wochen damit durch sein.“ Er sah Marvin plötzlich eindringlich an. „Wir können nur hoffen, dass nicht ausgerechnet jetzt doch noch etwas Schlimmes passieren wird.“
Marvin hielt dem Blick stand. Sein Vater war zwar ein Weltverbesserer, aber nicht naiv.
„An deiner Stelle“, sagte Marvin langsam, „würde ich das mit der Cloud geheim halten. Man weiß ja nie.“
Marvin war bereits einige Meter Richtung Tor gegangen, als ihm sein Vater noch hinterherrief.
„Ich kann dir einen Job vermitteln.“
Marvin blieb stehen, bis ihn sein Vater eingeholt hatte.
„Ich habe gute Kontakte zu einem Unternehmen, die erneuerbare Energie bereitstellen.“
„Ein IT-Job?“, fragte Marvin und kämpfte mit alten Impulsen.
„Nein“, antwortete sein Vater „ein Security-Job.“
Marvin schwieg für einige Momente, bis es ihm gelang, einigermaßen zu reflektieren.
„Ich weiß die Geste zu schätzen“, gab er schließlich zurück. „Ich möchte aber meinen eigenen Weg finden.“ Endlich ließ ihn der Blick seines Vaters los und wanderte über die Felder.
“Tja, dann kann ich wohl nicht mehr tun? Ich kann dir nur wünschen, dass dich eine glückliche Zukunft erwartet.“
Marvin drehte sich Richtung Tor um und ergänzte mit einem Blick zurück über die Schulter.
„Mehr kann wohl keiner von uns erwarten.“