Man muss nur wollen
Es war ein bisschen kompliziert mit den Schlüsseln. Wo sich der zum Schlüsselsafe befand, wusste nur ich. Nicht mal Carola. Aus Sicherheitsgründen eben. Jetzt musste ich an den Schlüssel zum Haupttresor mit den Brennstoffvorräten, unseren Notstromerzeuger befüllen. Damit weiter Unterhaltungsprogramm bei uns lief.
Schon im großen Treppenhaus zögerte ich, mit einem mulmigen Gefühl in der Brust: War es richtig, gleich mal unsere letzten Vorräte einzusetzen, quasi nur so zum Spaß? Dringender würde ich sie doch für Mama und ihren Markus brauchen. Aber noch gab es ja keinen Grund zur Beunruhigung. Die Nachrichtendienste verbreiteten Fröhlichkeit, und sobald wir wieder Strom zugeleitet bekamen, war doch alles gut. Dass uns der Betrieb des Notstromerzeugers ein Vermögen kostete, versuchte ich auszublenden. Brennstoff halt. Alles sollte so normal wie möglich bleiben. Ich wollte einfach nicht nachdenken über die wenigen Stunden alle paar Wochen, in denen kein Strom kam. Wenn ich meinen Kopf damit belastete, war der Schaden allemal größer.
Jedenfalls gab es nun schon seit gestern früh keinen Strom mehr. Wir alle hatten am Abend unsere Allroundys beiseitegelegt – aber nur kurz. Dann war klar: Das ging gar nicht. Was sollten wir auch sonst, ohne Allroundys, anfangen? Beinahe hätte ich mich schon geärgert. Dann aber schob ich die hässlichen Gedanken beiseite, das ging bloß auf die Gesundheit. Ich wollte auf keinen Fall aus meiner nun ohnehin schon angekratzten Gleichgültigkeit herausgedrängt werden, auf die ich mich durch stundenlanges Flow-Optimizing eingespielt hatte. Jedenfalls nicht ohne ausgewiesenen Notfall. Und sowas gab es ja schon lange nicht mehr. War ganz weit weg von uns. Wozu sich also mit Eventualitäten befassen, die es doch gar nicht wirklich geben würde. War doch Unsinn!
Aber jetzt, einen Tag später: Carola war wild entschlossen, mit gutem Beispiel voranzugehen und auf ihren Allroudy zu verzichten. Verzichten sei eine Kulturtechnik, hielt sie uns vor, die heutzutage verloren ginge. Und jetzt wäre eine gute Gelegenheit, sich darin zu üben. Sie hatte eben am meisten Angst von uns allen, die Kinder dagegen vertrauten uns Eltern naturgemäß.
Oder nicht? Als Paulis Follower hatte ich doch mitbekommen, dass er auf allen Kanälen die Meldungen checkte. Das hatte mich, ohne dass ich es wollte, angesteckt. Oder wollte ich mir bloß vormachen, weiter mit meinen Kindern in Kontakt zu sein? Ich stand wie festgefroren im großen Treppenhaus und lauschte. Geisterhaft still war es. Niemand von den Nachbarn rührte sich. Kein Brummen. Kein Gedudel. Ich fühlte mich wie taub. Zwang mich weiterzugehen. Schlich beinahe, hinunter in den Stahlkeller, zum Haupttresor. Viel Geld hatte ich investiert, dabei war unser Sicherheitsstandard längst nicht mehr up to date. Weil wir es lässig fanden, in manchen Dingen altmodisch zu sein. Zum Beispiel ohne Allroundy zu Abend zu essen. Pauli und Sopha hassten mich zwar dafür, dass sie die einklappen und weglegen mussten. Aber immerhin setzte ich das noch durch. Immerhin.
Ich war nervös. Brauchte mir nichts vormachen. Vorbei die teuer erkaufte Tiefenentspannung, die Fokussierung aufs Easy-Going. Ich begann zu schwitzen, als ich den Tresor öffnete, mir rasch zwei kleine graue Scheiben auf die Handfläche schubste, um sie gleich in meinem Bodyslot verschwinden zu lassen. Manche hatten nicht mal einen Notstromerzeuger, hielt ich mir vor – denn schon der Betrieb war unglaublich teuer – und konzentrierte mich darauf, in tiefen Zügen zu atmen. Alles war möglich. Man muss es nur wollen.
Das hing als geschwungener Schriftzug über der Virtual-Conference-Ecke in meinem Büro.
Ich hastete nach oben zum Notstromerzeuger. Legte Brennstoff nach. Versperrte den Schlüssel zum Haupttresor im Schlüsselsafe. Verwahrte den anderen Schlüssel und ließ mich von der allgemeinen Erleichterung eingelullt in meinen Wolkensessel fallen. Wohlwissend, dass ich nochmal raus musste. Widerwillig versuchte ich mich an den Gedanken zu gewöhnen: Rüber in den anderen Trakt, zu Mama. Nach dem Rechten schauen.
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Ich fand sie in ihrem fahrbaren Sesselbett. Markus massierte ihr gerade die Füße, Mama schnurrte dazu. Normalerweise hätte ich sie auch nicht weiter gestört.
„Du bist es!“ rief sie in einer Mischung aus Ekstase und Empörung. Machte dabei eine Bewegung mit der Hand, als wollte sie mich wegscheuchen: „Alles fein!“ Sie erkannte mich nur mehr an meinen Geräuschen.
Ich beugte mich vor, um den Akkustand von Markus abzulesen, konnte aber nichts erkennen.
„Was machst du da?“ herrschte Mama mich an, „stör ihn nicht. Du siehst doch …“
„Ja, sehe ich“, knurrte ich zurück.
„Markus ist mein Bester.“
Was soll man machen: Ich konnte ihr nichts erklären, wollte ich ihr doch ihr liebstes Märchen nicht nehmen. Dabei bezweifelte ich, dass sie selbst restlos daran glaubte.
„Was willst du hier eigentlich?“ rief Mama mir in die Vorratskammer hinterher, wo ich die verbleibende Leistung ihres Notstromerzeugers kontrollierte. Das letzte graue Scheibchen war bereits in der Brennkammer, die Anzeige blinkte rot.
Ich schoss zu ihr ins Wohnzimmer: „Was hast du den ganzen Tag gemacht?“ stieß ich atemlos hervor.
„Ferngesehen“, zischte sie, „willst du deiner alten Mutter etwa auch noch die letzte Freude nehmen?“
Ich hielt die Luft an. Sie hing so an dem altmodischen Stromfresser, auf dem sie laut Augenarzt gerade noch ein paar Farbflecke flimmern sah. Aber der wandfüllende Flächenglotzer war schon immer ihr liebstes Ding gewesen. Den wollte sie auf keinen Fall hergeben, was unter normalen Umständen ja auch kein Problem war. Ich hatte ihr zur Bedienung eigens eine Smart-Home-Funktion eingerichtet, vor der sie sich aber fürchtete – Also hatte ich die vorerst wieder deaktiviert.
Ich unternahm einen neuen Versuch: „Wie wäre es übrigens“, begann ich vorsichtig.
„Ach, lass mich gefälligst in Frieden“, bellte sie.
Das war mal ein richtiges Gespräch, dachte ich aufgeregt. Mamas Bissigkeit störte mich dabei am allerwenigsten. Vielleicht aber durfte ich Mama in Zukunft keine Entscheidungen mehr überlassen?
Der Gedanke schmerzte mich. Plötzlich fühlte ich mich roh, wie ohne Haut. Und auch das war irgendwie perlend.
„Jedenfalls … ich muss hier mal was reparieren“, gab ich vor und war schon in der Vorratskammer: Hier hielt ich noch eine letzte graue Scheibe für Notfälle versteckt. Hatte dafür eigens einen Spalt in die Mauer gefräst und den sorgfältig kaschiert. Puh – da hatte ich geglaubt, dass Mama nicht so viel Strom brauchen würde. Was für ein Leichtsinn! Schon wieder begann ich zu schwitzen. So sehr, dass meine Pulsuhr zu piepsen begann. Verdammt! Das hatte ich nun davon. Jetzt war auch noch der Grenzwert für Stressindikatoren im Körper überschritten. Das gab totsicher Punktabzug bei den Gesundheitsleistungen. Aber das sollte mir doch jetzt verflixt nochmal scheißegal sein! Ich schloss die Augen. Wo war ich stehengeblieben? Bei Mama und Markus. Wenn Mama ihn dauernd zum Massieren einsetzte, würde der eben auch nicht mehr lange halten. Also erstmal zurück ins Wohnzimmer und den gröbsten Verschleiß verhindern.
„Jetzt ist Schluss damit“, verfügte ich ungehalten. „Stopp!“
Markus hielt augenblicklich an und fuhr in die Ausgangsposition zurück. Mit Bestürzung registrierte ich, dass auch seine Ladestandanzeige bereits blinkte.
„Also bitteschön“, Mama fuhr ihr Sesselbett in die aufrechte Lage, „was tust du hier so herum, Junge?“ Etwas wackelig zwar, aber immerhin, kam sie auf ihre dünnen Beinchen und machte sich vor mir so gerade wie ich sie lange nicht mehr gesehen hatte. Ich schaute in ihre trübe funkelnden Augen hinunter, die mir mit einem Mal wieder Furcht einflößten: Ich hatte was verkehrt gemacht, wie früher würde nun die gerechte Strafe folgen: „Äh-äh-häm … aber das ist wichtig, Mama!“
„Wichtig, wichtig! Was verstehst du denn schon davon?“ Ihr knochiger Zeigefinger durchstieß von unten mein Blickfeld. Tief in mir drin machte sich ein Zittern bemerkbar, das ich schon glaubte vergessen zu haben. Wie merkwürdig das war, auf einmal kannte ich mich gar nicht mehr so recht aus. Alles kam mir so vertraut vor, als hätte ich die ganze Zeit nur geträumt und wäre jetzt aus einem jahrelangen Schlaf erwacht.
„Schluss jetzt mit dem Blödsinn!“ zischte Mama. „Du gehst sofort zu deiner Familie und kümmerst dich um deine Angelegenheiten!“
Meine Zunge lag bleischwer im Mund. Wie sollte ich ihr erklären, dass ich sie doch nicht einfach sich selbst und der Situation überlassen konnte? Das Licht würde ausgehen und alles andere auch.
„Ich gab mir einen Ruck. Immerhin war ich ein erwachsener Mann. „Mama! Zu deiner eigenen Sicherheit muss das jetzt sein!“
„Muss-muss“, hörte ich sie unwillig brummeln, während ich mit zitternden Knien zwar, aber entschlossen zurück in die Vorratskammer marschierte. Dort beinahe die heilige graue Scheibe im Ansaugzylinder verkeilte. Mit kräftigem Ruckeln und Ziehen und einem lauten Plopp! löste ich sie zu meiner unendlichen Erleichterung wieder. Mama würde hören, dass ich was anrichtete. Und zetern, dass ich wohl vorhätte, ihr nicht nur den Fernseher und Markus, sondern gleich auch noch das ganze Haus wegzureißen! Oder sollte ich ihre Not-Reserve-Scheibe etwa besser mit zu uns nehmen? Auf die Gefahr hin, dass sie mir jemand stahl? Vorhin schon hatten Max und Marie vom Obergeschoss angerufen, die ungewohnte Vibration in ihren Stimmen hatte mir zugesetzt. Dabei hatten sie mich nur höflich gefragt, ob sie eventuell und vielleicht, ob es wohl möglich wäre, dass sie uns ein oder zwei graue Scheiben abkauften? Ich war baff. Solche Summen! Und Geschäfte mit den Nachbarn … Jedenfalls war von mehr nicht die Rede gewesen, aber ich wusste natürlich, dass es aus war bei ihnen. Vielleicht dachte ich besser nicht eine Sekunde daran. Dass zum Beispiel unsere Firma stillstand. Die gesamte Produktion. Überall. Die ganze Technologie ringsum schön langsam einfror wie ein unwirkliches Geister-Wunderland.
Ich musste mich auf das Wesentliche konzentrieren. Noch die Vorratskammer verriegeln. Dann tatsächlich zurück zu meiner Familie. Die Situation überwachen.
„Bin schon weg“, rief ich Mama im Laufschritt zu, wohlwissend, dass sie es mir übel nahm, dass ich sie nicht wenigstens kurz in meine Arme schloss.
—
Zuhause war es nicht besser, stellte ich mit steigendem Unbehagen fest. In den Nachrichten kursierte mittlerweile die Meldung eines historischen Engpasses, weil sich die Mischung aus Wolkenmasse und Schmutzpartikeln rund um unseren Planeten so verdichtet hatte, dass selbst Solarzellen keinen Strom mehr produzierten. Ich kontrollierte die verbleibende Leistung unseres Notstromerzeugers: 1,6 Prozent weniger als vorhin, wo ich zu Mama gegangen war. Eigentlich war das nichts weiter. Unter normalen Umständen.
Ich verlor die Beherrschung, drückte den Alarmknopf in unserem Wohnzimmer, so dass zuerst Carola und dann Pauli und Sopha mit aufgerissenen Augen und aufgeklappten Allroundys vor mir standen.
„Was’n …?“ wollte Sopha von mir wissen.
„Warum ist der Verbrauch so hoch, was habt ihr getan?“ brüllte ich.
„Brauch‘ meinen New-Plastic-One für später“, gab Pauli zu, „speed- & ultrawashed.“
„Du willst weggehen? Wohin denn?“
Unbeeindruckt zuckte Pauli die Schultern und maulte: „Hey, flow mal.“
Ich grub meine Hände ineinander, in meinen Ohren begann es zu rauschen und zu pfeifen, ich hatte so sehr gehofft, diese Pein längst überwunden zu haben.
„Hast du gar nix kapiert, Junge?“ herrschte ich ihn an, und zu Carola: „Das kannst du unmöglich durchgehen lassen!“
Sopha standen die Tränen in den Augen. Sie schaute von mir zu Carola und dann zu Pauli. Ich legte ihr die Hand in den Nacken, und sie ließ es geschehen. Wie lange hatte ich das schon nicht mehr getan? Sicher seit dort ihr Allroundy seinen festen Platz eingenommen hatte. Auch mir stiegen die Tränen in die Augen. Das verschleierte meinen Durchblick, war aber nicht aufzuhalten. Carola starrte mich entgeistert an: Reagierte ich vollkommen über? Aber wir hatten bereits einen Ausnahmezustand, ich spürte das doch genau, dazu musste ich nicht mal vor die Tür gehen.
Carola nahm meine Hand: „Wir wissen nicht, wie es ausgeht. Wir können nur abwarten. Versuch dich zu entspannen. Nimm dir ‘ne Auszeit.“ Sie klang wie mein Flow-Balance-Coach. Vielleicht war es das, was mich in diesem Augenblick willenlos machte.
„Geh mal auf deinen Allroundy, Paps“, flankierte Pauli Carolas Vorschlag.
Aber konnte ich das wirklich machen, in dieser Situation?
Es einfach tun? An sich fürchtete ich ja bloß, dort hängen zu bleiben. Die herrliche Gleichgültigkeit nicht mehr hergeben zu wollen. Sollte doch meinetwegen alles im Chaos versinken! Ich verspürte Sehnsucht nach einer dieser alten Schmonzetten, wo die Leute überall drinnen und draußen Steckdosen hatten und lauter verschwenderische Maschinen. Das muss man sich nur mal vorstellen. Ich klappte meinen Allroundy unter dem Homesuit hervor. Wankte zu meinem Wolkensessel. Zog mir die 3-D-Kappe über den Kopf. Stellte auf voll abgeschirmt, vorsichtshalber nur eine Stunde. Das würde schon gehen. Heute jedenfalls kein Folterkeller-Porno, von dem ich mich so gern in meiner Gelassenheit kitzeln ließ. Ich wählte Schöne Heimat 2019.