Phoebe
1
Aus dem Augenwinkel sehe ich jemand auf mich zustürmen. Instinktiv gehe ich in Abwehrhaltung, aber ein Mann in einem Laborkittel packt die auf mich zu rennende Frau und reißt sie mit sich zu Boden. Die Frau wirft ihren Kopf wild hin und her. Ihre blutunterlaufenen Augen zucken wild von einer Ecke des Raumes in die nächste. Ein kleines Rinnsal Spucke läuft ihr aus dem linken Mundwinkel. Ihr Kopf ist kahl rasiert und mit kleinen roten Punkten übersät. Sie wehrt sich mit aller Kraft und der Mann hat größte Mühe sie festzuhalten. Er schafft es allerdings kurz, eine Hand freizubekommen, und sticht der Frau einen Injektor in den Oberarm, den er aus seiner Tasche gekramt hat. Die Frau erschlafft von einer Sekunde auf die nächste. Erschöpft lässt sich der Mann zu Boden sinken.
Dr. Steiner, der mich durch die Räumlichkeiten führt, packt den Laborkittel unsanft am Oberarm und zerrt ihn auf die Füße. Er zischt dem Unbekannten etwas ins Ohr, das zu leise ist, als dass ich es hören könnte. Der Laborkittel läuft hochrot an.
„Das tut mir schrecklich leid, Mr. Miller. Ich weiß nicht was in“, er blickt kurz auf das Shirt der bewusstlosen Frau „AB03C2FA gefahren ist. Unsere Computer sind sonst sehr ruhige Zeitgenossen. Wir wollen Sie doch nicht an Ihrem ersten Tag verängstigen.“
Erster und letzter Tag, Kumpel. Wenn alles gut läuft.
„Keine Angst, es ist ja nichts passiert“, sage ich und versuche zu lächeln.
Steiner antwortet seinerseits ebenfalls mit einem gequälten Lächeln. Ich kann es kaum erwarten, mit dieser Tour hier fertig und ihn los zu sein. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass das auf Gegenseitigkeit beruht.
2
„Dieser Raum enthält nur eine von vielen Mining Chambers. Unser Komplex umfasst vierundsechzig Gebäude“, erzählt mir Steiner, zum ersten Mal während der Führung sichtlich begeistert. „Alle acht auf acht auf acht Meter. Die Gebäude sind alle miteinander verbunden, deshalb sieht es aus großer Höhe aus, wie Blöcke, die an einer Kette hängen.“ Er fixiert mich mit seinem Blick. „Wie gefällt ihnen das alles?“
Ich lasse meinen Blick noch einmal durch den Raum schweifen. Der Kubus, in dem wir uns befinden, ist völlig fensterlos und wird von mehreren Strahlern an der Decke restlos ausgeleuchtet. Es gibt insgesamt drei Zugänge. Aus der linken Tür sind der Doc und ich gekommen. Die mittlere Tür führt, wie ich weiß, über eine Rampe nach draußen. Die rechte ist mit gelb-schwarzem Sicherheitsklebeband abgesperrt. Daneben steht ein Schild, das auf Bauarbeiten hindeutet.
Unsere Hälfte des Raumes wirkt bis auf eine kleine Arbeitsecke klinisch steril. Die acht Meter bis zur Decke sind auf dieser Seite gähnend leer. In der Ecke sitzt ein weiterer Mann im Laborkittel vor einem Computerbildschirm und starrt angestrengt darauf. Ich bin mir nicht sicher, ob er unsere Anwesenheit überhaupt bemerkt hat.
Die andere Hälfte des Raumes ist komplett durch einen Einwegspiegel abgetrennt. Eine Tür, die praktisch nur durch einen aufgeklebten Schriftzug zu erkennen ist, stellt die einzige Unregelmäßigkeit dar. Der Schriftzug darauf ist eine lange kryptische Aneinanderreihung von Buchstaben und Zahlen. Auf der anderen Seite befindet sich in einem wohnlich eingerichteten Zimmer ein Computer. Er ist direkt zu erkennen, da eine Vielzahl von Kabeln direkt mit seinem kahlrasierten Kopf verbunden sind. Die dünnen Kabel hängen von einem Schwenkarm an der Decke, welcher den Bewegungen des Mannes im Raum folgt. Eine Frau assistiert dem Computer dabei, sich einen Kaffee zuzubereiten.
„Das ist F971F499, einer unserer ältesten. Er hat uns schon oft zum Durchbruch verholfen.“
„Sie verwenden ausschließlich Short Hashes anstatt Namen für Ihre Insassen?“
Steiners Augen verengen sich. „Wir bevorzugen das Wort Computer und ja, wir verwenden ausschließlich Hashes. Ein Großteil der Computer reagiert weder auf Hashes noch auf Namen und solche, die darauf hören, gewöhnen sich schnell genug an ihren Identifier.“
Plötzlich ertönt ein spitzer Schrei aus der sogenannten Mining Chamber. Ich sehe wie der Computer sich die rechte Hand hält und etwas auf den Boden tropft. Seine Kaffeetasse liegt in Scherben unter ihm. Die Frau berührt ihn sanft am Arm, vermutlich um ihn zu beruhigen, doch er stößt sie abrupt weg, sodass sie stolpert und auf dem Boden landet. Wir können ihn auf unserer Seite nicht hören, aber es sieht so aus, als ob er lang und ausgiebig flucht.
Dann wandert sein Blick plötzlich in meine Richtung. Der Mann wird kreidebleich und seine Muskeln werden schlaff, als ob ihn alle Kraft verlassen hätte.
„Doktor Steiner!“
Ich brauche einen kurzen Moment, um den Ursprung der Stimme zu orten. Der Mann in der Ecke war bisher so unauffällig, dass ich ihn schon wieder vergessen habe.
„Doktor Steiner! Er hat es mal wieder geschafft!“
Steiner lächelt breit, doch auch diesmal scheint es nur aufgesetzt zu sein. „Wahnsinn. Das sind jetzt schon elf …“
„Zwölf, Doktor“, unterbricht ihn der Mann am Bildschirm aufgeregt.
„Zwölf!“ Steiner lässt sich das Wort sichtlich auf der Zunge zergehen. „Packen Sie den Sekt aus!“
Der Mann drückt auf eine bestimmte Stelle an der Wand und es öffnet sich ein kleiner Schrank. Er nimmt eine Flasche und drei Gläser heraus und stellt sie auf den Tisch.
„Sie trinken doch mit, Mister…“
„Miller“, antworte ich. „Sicher.“ Ich hasse Sekt. Das Zeug steigt mir immer direkt in den Kopf. Das einzig Gute daran ist, dass die Wirkung auch schnell wieder verpufft. Ich brauche nachher dringend wieder einen klaren Kopf.
Wir stoßen auf den Rechenerfolg an. Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, wie Steiner mit seinen hellgrauen Augen beobachtet, wie ich meinen Sekt trinke. Der Mann ist unheimlich. Je schneller ich den los bin, desto besser!
3
Zischend schließt sich die Tür. Ich atme tief aus. Endlich allein, wenn auch in einer großen Besenkammer. Irgendwie seltsam, dass sie den neuen Hausmeister hier so groß herumführen. Vor allem, dass sich mit Dr. Steiner gleich einer der ganz großen Tiere auf mein Niveau herablässt. Ich habe gehofft, hier etwas unauffälliger hereinzukommen.
Ich schnappe mir einen der Werkzeuggürtel aus dem Regal und binde ihn mir um. Der große Schraubenschlüssel liegt schwer auf meinem rechten Oberschenkel. Besser als nichts. Zum Glück habe ich nicht versucht, etwas in den Komplex zu schmuggeln. Mein Ausflug hätte vermutlich schon an den Metalldetektoren in der Lobby ein jähes Ende gefunden. Vom anschließenden Ganzkörper-Röntgen mal abgesehen.
In der Ecke steht ein Wischwagen, inklusive abgenutztem Wischmopp und brackigem Wasser. Der Geruch ist auch auf einige Meter Entfernung noch beachtlich. Angewidert kippe ich das Wasser weg. Zeit, an die Arbeit zu gehen. Am besten fange ich mit der vorhin besuchten Mining Chamber an.
4
Ich merke, wie der Laborkittel immer wieder vom Monitor aufblickt und mich bei der Arbeit beobachtet. Irgendwie kommt er mir nicht so vor wie jemand, der einen Laborkittel tragen sollte. Beim nächsten Mal winke ich ihm fröhlich zu. Er läuft rot an und verschwindet, so gut es geht, hinter der halbdurchlässigen Scheibe des Monitors.
Erst als mein rechter Arm durch das Teppichschrubben schon beinahe taub geworden ist, steht der Typ in der Ecke auf und verlässt den Raum. Ich seufze und gönne mir einen kurzen Moment Auszeit. Am Kaffeefleck hat sich meiner Meinung nach nichts verändert. Soll sich der Nächste drum kümmern.
Der Kubus ist nun bis auf mich menschenleer. Die mit Absperrband verklebte Tür hat schon vorher mein Interesse geweckt. Mit Enttäuschung stelle ich fest, dass die Tür durch ein Magnetschloss mit einem Kartenleser gesichert ist. Dr. Steiner hatte vorhin definitiv eine entsprechende Karte um den Hals hängen. Ich versuche, mich daran zu erinnern, ob der Laborkittel auch so eine umhatte. Ich meine nicht. Vielleicht hat er sie hier vergessen.
Ich schlendere zum Arbeitsplatz in der Ecke. Bis auf eine mit Laser in den Tisch eingebrannte Tastatur und den zugehörigen Monitor ist der Glastisch leer. Korrigiere! Es sind auch haufenweise schmierige Fettflecken auf dem Tisch. Die Hausmeisterrolle färbt ganz schön schnell ab.
Mir fällt auf, dass es weder unter noch neben dem Tisch irgendwelche Schubfächer gibt. Keine Aufbewahrungsmöglichkeit. Eine Karte lag aber vorhin auch nicht auf dem Tisch. Hat der Typ vielleicht gar keine? Ohne große Hoffnung lasse ich meinen Blick noch einmal über den Glastisch schweifen. Nicht nur Fettflecken, sondern auch Wasserflecken. Ich fange an die Wand abzuklopfen. Doch egal, wo ich drücke, kein versteckter Schrank öffnet sich. Ich bin gerade im Begriff aufzugeben, als ich hinter mir das Zischen einer sich öffnenden Tür höre.
„Paul? Bist du da? Ich bräuchte noch kurz …“ Eine weibliche Stimme. „Was tun Sie da?“
Ich drehe mich um und sehe eine Frau energisch auf mich zu stapfen. Auch sie trägt einen Laborkittel. Vermutlich waren die irgendwo im Sonderangebot. Sie kommt mir deutlich näher als es mir recht ist und bleibt erst stehen, als nur noch knapp eine Handbreit Platz zwischen unseren beiden Körpern ist.
„Äh, ich…“ Schnell! Lass dir was einfallen. „Hier soll eine angebrochene Sektflasche in einem Wandschrank sein, aber … äh … ich kann den Schrank nicht finden. Das ist mein erster Tag, wissen sie?“
Sie mustert mich eingehend. Ihr scheint nicht sonderlich zu gefallen, was sie da sieht. Als ob das nicht genug wäre, streckt sie mir dann doch tatsächlich die Nase entgegen und beginnt an mir zu schnuppern. Ich kann deutlich sehen, wie sich ihre Nasenflügel weiten. Was zum Geier? Ich weiche unwillkürlich einen Schritt zurück.
Missbilligend tippt sie mit ihrer Fingerspitze an eine Stelle an der Wand und das gesuchte Fach springt auf. Ich hätte schwören können, dass ich dort gerade noch herumgedrückt habe.
Wie dem auch sei, in dem Fach befindet sich die angebrochene Flasche, die drei benutzten Gläser neben ein paar weiteren, noch unbenutzten. Wie durch ein Wunder liegt tatsächlich auch eine Magnetkarte drin.
„Sie sollten vorsichtig sein.“ Sie schaut mich ernst an.
„Was?“
„Ich sehe, wie Ihre Augen leuchten. Ihr Vorgänger wurde wegen genau so etwas entlassen. Nur ein nett gemeinter Ratschlag.“
Sie wirft mir einen letzten verachtenden Blick zu und lässt mich dann ohne weitere Worte stehen. Ich warte, bis sie den Raum verlassen hat, um dann die Karte aus dem Schrank zu holen. Als ich das Gesicht auf der Karte erblicke, stellen sich meine Nackenhaare auf. Ich hatte dort den unscheinbaren Laborkittel erwartet, aber mich starrt das glatzköpfige Gesicht von F971F499 an.
5
Ich brauche einige Sekunden, um den Schock zu verarbeiten. Was geht hier vor sich? Die Computer dürfen sich doch sicherlich nicht einfach frei hier bewegen? Schon gar nicht in diversen Hochsicherheitsbereichen.
Die versperrte Tür lässt sich allerdings mit der Karte problemlos öffnen. Ich blicke mich noch einmal um. Vorsichtig entferne ich genug Klebeband, um mich und den Putzwagen durchzuschieben und versuche dann so gut wie möglich, meine Spuren zu verwischen. Ich habe Glück und in der Zeit betritt niemand mehr den Raum. Hier hilft mir sicherlich auch, dass ich meinen ersten Arbeitstag direkt mit einer Nachtschicht beginne und die meisten Mitarbeiter vermutlich schon auf dem Weg nach Hause sind. Ich befinde mich im Verbindungsgang zum nächsten Gebäude. Durch die großzügigen Glasscheiben kann ich sehen, dass es draußen bereits dämmert. Glücklicherweise warnt mich so auch der Lichtkegel von Scheinwerfern vor einem herannahenden Fahrzeug. Ich werfe mich auf den Boden und hoffe, dass der graue Putzwagen in dem unbeleuchteten Gang gut genug mit den Schatten verschwimmt. Das Auto rauscht ohne langsamer zu werden vorbei. Zügig schreite ich zum anderen Ende des Ganges. Kein loses Werkzeug, keine Kisten. Nichts hier deutet auf eine Baustelle hin. Könnte natürlich immer noch der nächste Block sein, aber warum sollte man dann den Gang hier schon absperren?
Ich öffne die nächste Tür und finde mich überraschend in einem düsteren Serverraum wieder. Die grauen Monolithen mit blinkenden LEDs sehen ein wenig aus wie freistehende Särge, die im Raum verteilt sind.
Am Ende des Raumes kann ich ein schwaches Glimmen ausmachen. Als ich näherkomme, erweist sich meine Vermutung als richtig. Ein Bildschirm leuchtet einsam vor sich hin und wartet auf eine Passworteingabe. Auch hier ist eine Tastatur in die Glasplatte unter dem Bildschirm eingearbeitet.
Gerade als ich eine der Tasten antippen will, lässt mich ein Geräusch hinter mir zusammenzucken. Ich werfe einen Blick hinter mich, aber zwischen den Server-Racks bewegt sich nichts. Versteckt sich jemand hinter den Maschinen? Ich habe keine Tür gehört.
„Hallo?“
Keine Antwort, aber über das Surren der Kühlung kann ich weiterhin eine Art Blubbern hören. Ist hier einfach die Wasserkühlung undicht? Nein, dafür ist das Geräusch zu laut und unregelmäßig.
Ich folge dem Geräusch wieder in den Raum hinein und bleibe schließlich vor einem der Monolithen stehen. Erst als ich jetzt so nahe an einem Rack stehe, fällt mir auf, dass hier die typischen Blades zum Einschieben fehlen. Die Front erscheint wie aus einem Guss. Ich halte vorsichtig mein Ohr in die Nähe des Racks. Ja, das Geräusch kommt eindeutig aus dem Inneren.
Als ich mich wieder aufrichte, fällt mir sofort auf, dass ich eine ganze Reihe von kleinen Bildschirmen aktiviert habe. Vermutlich habe ich unabsichtlich die Front gestreift. Es sind Anzeigen für Temperaturen, Laufzeit, Auslastung und … Nahrungszufuhr? Wenn ich das richtig verstehe, handelt es sich hierbei um einen Diätplan. Ein Haufen Proteine, Vitamine und was man eben so den Tag über braucht. Neugierig tippe ich den kleinen Pfeil auf dem Display an.
Stimulantien? Die meisten Begriffe sind medizinischer Nonsens für mich, aber ich kann Kokain, Koffein und Ritalin ausmachen. Was zur Hölle? Auf der Suche nach einem Weg, die Front abzunehmen, taste ich die Seiten und die Oberkante des Racks ab. Nichts.
„Verdammt!“ Ich schlage mit der flachen Hand auf die Box. Diese quittiert das mit einem leisen Schnurren und springt einen Spalt auf. Vorsichtig öffne ich die Front. In einem Wassertank schwebt eine Frau. Verschiedene Schläuche laufen ihr in Mund und Nase. Während der eine durchsichtig und leer scheint, fließt durch den anderen gut sichtbar eine bräunliche Flüssigkeit. Eine Vielzahl von Elektroden laufen in ihr Gehirn. Die Kabel laufen über ihrem Kopf zusammen, am hinteren Rand des Kastens entlang und verschwinden unter ihren Füßen im Boden.
Mein Herz klopft wie wild in meiner Brust. Für einen kurzen Moment habe ich die Befürchtung, dass meine Infiltration hier zu einem jähen Ende kommt und ich einen Herzinfarkt erleide.
Wie aus dem Nichts ertönt hinter mir ein fröhlicher kurzer Jingle, gefolgt vom Geräusch unzähliger Münzen, die in den Auswurfschacht eines Glücksspielautomaten purzeln. Ungläubig ziehe ich die Abdeckplatte wieder zu. Eines der grob verpixelten Displays zeigt Münzen, die von oben nach unten regnen und zum Schluss das Logo von Eco-Coin. Darauf folgen Statistiken wie die Anzahl verfügbarer Coins und der aktuelle Börsenkurs.
Als ich den Raum verlasse, sieht das Display aus wie ein Spinnennetz.
6
Ich nehme all meinen Mut zusammen und öffne die Tür zur Mining Chamber. Keiner da! Erst jetzt merke ich, dass ich die Luft anhalte. Ich atme schwer aus und mache mich rasch an die Arbeit. Mit größter Mühe versuche ich die Klebebänder so zu hinterlassen, wie ich sie vorgefunden habe. Mit dem Putzwagen gebe ich mir keine Mühe. Jetzt nichts wie raus hier. Gerade als ich in die Nähe des Sensors trete, der die Tür nach draußen öffnet, gleitet diese auf.
„Ah, Mr. Miller. Ich dachte mir schon, dass ich Sie hier finde.“ Dr. Steiner steht in der offenen Tür und versperrt mir den Ausgang. „Wie war denn Ihr erster Tag so? Haben Sie alles gefunden?“ In seiner Stimme schwingt ein düsterer Unterton mit.
„Ja, es lief alles super“, antworte ich ihm. „Ich bin leider nicht so weit gekommen, wie ich wollte, aber morgen ist ja auch noch ein Tag.“
Steiners Gesichtsausdruck gefällt mir gar nicht. Vor meinem geistigen Auge erscheint ein Bild der verkabelten Frau im Glaskasten. Scheiß drauf, dann eben auf die harte Tour. Meine Hand bewegt sich in Richtung des Schraubenschlüssels. Doch noch bevor ich ihn zu packen bekomme, finde ich mich plötzlich zuckend und vor Schmerzen gekrümmt am Boden wieder. Dr. Steiner steht triumphierend über mir. Er hat etwas in der linken Hand das entfernt an eine Fernbedienung erinnert.
„Nanobots“, erklärt er mir. Sein Finger schwebt kurz über dem Knopf und senkt sich dann unerbittlich.
Während ich beim ersten Mal noch die Zähne zusammengebissen habe, kann ich diesmal einen gellenden Schrei nicht unterdrücken. Es fühlt sich an, als würde jemand glühend heiße Messerspitzen an jede erdenkliche Stelle meines Körpers stechen.
„Ihnen war doch sicher bewusst, wo Sie sich hier einschleichen. Das hätte ihnen aber nun wirklich klar sein müssen, dass wir uns mit dem menschlichen Körper bestens auskennen.“ Zum ersten Mal kommt es mir so vor, als ob sein Grinsen aufrichtig wäre. „Ich muss sagen, dass ich sehr enttäuscht bin. Ich hatte Sie für intelligenter gehalten.“
Er lässt den Knopf los. Ich schnappe nach Luft wie ein Ertrinkender.
„Haben Sie eine Idee, wie Sie in diese missliche Lage geraten sind?“ Steiner schaut mich erwartungsvoll an.
„Sekt!“, presse ich zwischen schmerzhaften Atemzügen hervor. „Aber wie … Sie und der andere …“
„Ah, ja. Wir haben uns auch Sekt genehmigt, meinen sie?“ Er geht in die Knie, sodass sein Gesicht nur noch ein paar Zentimeter von meinem entfernt ist. Mit größter Mühe kann ich meine Hand dazu bewegen, nach dem Schraubenschlüssel zu tasten. „Sie sind natürlich etwas ganz Besonderes. Diese Nanobots haben wir nur für Sie gebaut.“
„Urinprobe … DNA“, dämmert es mir. Meine Hand schließt sich um kaltes Metall.
„Sehr gut. Ich bin stolz auf Sie.“
„Arschl-ooaaaaah!“ Noch bevor ich meine Beleidigung fertig aussprechen kann, steht mein Körper wieder unter Starkstrom. Meine Zähne krachen aufeinander. Wie in Trance sehe ich ein winziges rotes Stück Fleisch neben mir auf den Boden fallen, bevor mir schwarz vor Augen wird.
7
Als ich aufwache, werde ich von einem grellen Licht geblendet. Ich muss mehrfach blinzeln, bevor ich mehr als nur Schemen im Raum ausmachen kann. Selbst jetzt ist alles seltsam verschwommen. Mein Gesicht und mein Hals fühlen sich taub an. Weder Arme noch Beine hören auf mich, als ich ihnen befehle sich zu bewegen.
„Willkommen zurück Mr. Miller.“ Dr. Steiners Stimme klingt, als ob sie aus großer Entfernung kommen würde. Sehen kann ich ihn nicht. „Aber vielleicht sollten wir das Spielchen lassen. Sie kennen meinen richtigen Namen und ich Ihren – Mr. Lamont.“
Shit! Wie?
„Ich wusste schon die ganze Zeit, wer Sie sind. Was treibt denn einen Schnüffler wie Sie zu uns?“
„Függndss.“
„Na, na. Wir wollen doch zivilisiert bleiben? Wussten Sie, was Sie hier finden würden?“
Nein, Mann. Nicht direkt. Aber das geht dich einen Scheißdreck an.
„Nicht genau also. Was machen Sie hier?“
Was zum Geier?
„Reden Sie!“ Steiner taucht plötzlich am Rand meines Gesichtsfeldes auf. „Sprich!“
Ich sehe Spucke fliegen, spüre aber nichts.
„Ich will wissen, warum Sie hier sind!“
Nein, nein, nein, nein. Denk gar nicht erst dran. Ich habe keine Ahnung. Irgendjemand hat mir eine Mail mit ein paar internen Dokumenten zugespielt. Ich wollte herausfinden, ob da was dran ist. Keine Ahnung! Keine Ahnung! KEINE AHNUNG!
„Wer ist Abby?“
„Grrraaaahh! Wnndnnmmrrgrrdnnbrlmdmmömm!“
„Wir werden sehen, ob Sie dazu dann noch in der Lage sind. Aber Sie sollten sich nun wirklich ausruhen. Es braucht Zeit, bis sich Erwachsene an das Setup gewöhnen. Ich habe das Gefühl, dass Sie für EcoFin noch sehr wertvoll sein werden.“
Steiner dreht sich um und verschwindet aus meinem Gesichtsfeld. Als er zurückkommt, sehe ich eine Spritze in seiner Hand. Er schnippt demonstrativ ein paar Tröpfchen von der Spitze.
„Tut mir leid, dass ich Sie enttäuschen muss Mr. Lamont. Das hier wird sich lediglich um die Nanobots kümmern. Schade eigentlich, aber sie beeinflussen die Rechenleistung unserer Computer.“
Plötzlich fühlt es sich an als würde das ganze Blut in meinem Körper kochen. Die Schmerzen sind noch intensiver als zuvor. Das letzte das ich sehe, bevor ich das Bewusstsein verliere, ist Steiners sadistisches Lächeln.
8
Als ich wieder zu mir komme, ist der Raum leer. Die Lichter sind etwas gedimmt, ein Großteil des Zimmers liegt im Halbdunkeln. Nahezu alles an meinem Körper schmerzt. Ein Versuch, meine Hände zur Faust zu ballen, ist erfolgreich, überschwemmt mich jedoch mit einer neuen Welle von Schmerzen, die mich fast wieder ohnmächtig werden lassen. Ich lehne mich zurück und warte, bis die tanzenden schwarzen Punkte wieder verschwinden.
Ich stelle fest, dass ich meinen Kopf leicht anheben und drehen kann, ohne dass sofort wieder Schwindel aufkommt. Meine Arme und Beine sind mit dicken Metallringen an einen Stuhl gefesselt. Zu meiner rechten befindet sich ein kleiner Schubwagen. Darauf befinden sich Skalpelle, Klammern und andere medizinische Instrumente, aber auch Kabel und feine Elektroden. Ich rieche Desinfektionsmittel.
Auf meiner linken Seite befindet sich direkt neben mir ein Bildschirm. Es dauert einen kurzen Moment, bis ich die kleine Schrift darauf entziffern kann. Es handelt sich um eine Logausgabe.
[23:12:54] Wo? Zunge. Schmerz.
[23:12:58] Steiner. Lautsprecher? Nein. Hier!
[23:13:09] Shit! Wie?
[23:13:16] Fick. Dich.
[23:13:24] Nicht genau. Mann. Scheißdreck.
[23:13:31] Was?
[23:13:39] Laut. Spucke. Taub?
[23:13:43] Mail. Abby. Nein. Denken. Keine Ahnung. Umschlag. Dokumente. Echt? Keine Ahnung. Keine Ahnung! Keine Ahnung!
[23:14:01] Haar. Bring. Dich. Um.
Klasse. Während ich zuschaue, fängt die Ausgabe an zu scrollen. Ich lasse meinen Kopf erschöpft sinken.
Wie lange ich so da liege, kann ich nicht genau sagen. Ein leises, aber dennoch penetrantes Piepsen neben mir holt mich wieder zurück in das Hier und Jetzt. Wie lange der Monitor neben mir schon piepst, vermag ich nicht zu sagen.
Zaghaft öffne ich die Augen. Auf dem Monitor steht
„Hallo, Lamont!“
Mir fällt sofort auf, dass der Zeitstempel fehlt.
„Kannst du stehen? Kannst du laufen?“
Was passiert hier? Ist das ein Trick von Steiner? Ich weiß nichts über diese mysteriöse Abby. Nichts außer ihren Namen und dass sie mich um Hilfe gebeten hat.
„Ich bin nicht Steiner. Mein Name ist AB03C2FA. Du musst mir vertrauen, wenn du hier herauskommen willst!“
AB03…Abby?
9
Abby! Die Frau, die mich noch vor ein paar Stunden angegriffen hat!
„Ja. Nein. Nicht angegriffen. Ich wollte dich warnen.“
Warnen? Wovor?
„Der Sekt war eine Falle. Du hättest ihn nicht trinken sollen.“
Na, besser spät als nie. Wie kommst du in mein Gehirn?
„Gar nicht. Ich bin im Monitor. Deine Gedanken werden hierhin weitergeleitet und bestmöglich interpretiert.“
Du hast mir also die E-Mail geschickt und mich um Hilfe gebeten?
„Ja, aber es gibt eine Planänderung. Ich will nicht, dass du mich hier herausholst.“
Okay. Schließt der Plan meine eigene Flucht mit ein?
„Ja. Aber zunächst musst du etwas für mich tun.“
Die Fesseln, die mich am Stuhl festketten, springen plötzlich auf. Ungläubig reibe ich mir zunächst die Hand- und dann die Fußgelenke. Meine Beine zittern, halten mich jedoch, als ich sie mit meinem vollen Gewicht belaste.
Okay, Abby. Was kann ich für dich tun?
„Ich will, dass du FEBEBC33 findest und sie von diesem verdammten Ort wegbringst. Meine Tochter soll nicht in Gefangenschaft aufwachsen.“
Tochter? Die Frau – Abby – sah aus, als wäre sie Mitte zwanzig. Das würde ja bedeuten …
„Sie ist 6 Wochen alt.“
Mir gefriert das Blut in den Adern.
10
Auf einer Kommode in der Ecke des Raumes liegt ein vergessenes Tablet. Abby weist mich darauf hin, als ich mir gerade die letzten Elektroden aus dem Gehirn ziehe. Unsere Kommunikation wird fortan einseitig sein. Dafür hat Abby auf dem Tablet mehr Anzeigemöglichkeiten.
Die meiste Fläche des Bildschirms wird von einem aktuellen Kamerabild eingenommen. Ich sehe einen bewaffneten Sicherheitsmann vor einer Tür stehen. Ich werfe vorsichtig einen Blick durch die runde Glasscheibe in der Tür.
In der rechten oberen Bildecke erscheint plötzlich ein Chatfenster.
„Mach dich bereit! 3 … 2 … 1 …“
Die Tür surrt. Ich sehe, wie der Sicherheitsmann sich verwundert umdreht, und reagiere gerade noch rechtzeitig. Mit der ganzen Kraft, die ich mobilisieren kann, werfe ich mich gegen die Tür. Diese schwingt mit einer solchen Wucht auf, dass der Mann von den Füßen gerissen wird. Mit einem dumpfen Laut kracht sein Kopf gegen die Wand und er bleibt bewusstlos liegen. Seine Pistole fällt ihm dabei aus der Hand und schlittert ein paar Meter über den Boden. Das Klappern der Pistole auf dem Metallboden kommt mir ohrenbetäubend laut vor.
Ich halte den Atem an und erwarte, dass jeden Moment eine Armee von bewaffneten Sicherheitsleuten um die Ecke gerannt kommt. Gedanklich bereite ich mich schon auf die Einschusslöcher vor. Aber niemand kommt. Ich lese die Waffe auf und stecke sie in meinen Hosenbund. Dabei fällt mir auf, dass die Frisur des Mannes verrutscht ist. Darunter kann ich eine Reihe von feinen geröteten Einstichwunden ausmachen.
Mit neuem Mut lasse ich mich von Abby durch die verwinkelten Gänge leiten. Nichts hier erinnert auch nur entfernt an die klinisch reinen kubischen Räume, die ich bisher kennengelernt habe. Stattdessen sind die Wände hier unverkleidet. Ich sehe Rohre und lose Kabel.
Einige Male muss ich abrupt stehen bleiben, um einer Patrouille zu entgehen. Einmal werde ich fast erwischt und kann mich nur dadurch retten, dass ich mich schnell hinter ein paar dicken Kabelsträngen an der Wand verstecke. Mein Herz pocht so laut, dass es die vorbeilaufende Wache eigentlich hören müsste, aber wie durch ein Wunder läuft sie ohne anzuhalten an mir vorbei.
Um die Ecke kann ich am Ende eines langen Korridors einen Aufzug ausmachen. Ein leises Piepsen macht mich auf das Tablet aufmerksam.
„Hier!“
Gerade als ich um die Ecke biege, höre ich das schnelle Getrappel von mehreren herannahenden Leuten hinter mir. Ich hetze, so gut es geht, den Gang entlang in Richtung Aufzug. Wie durch ein Wunder öffnen sich die Türen sofort, als ich auf den Knopf drücke.
Mit einem Satz bin ich in der Kabine und presse mich just in dem Moment an die Außenwand, als erste Kugeln an mir vorbei pfeifen. Ich presse den Knopf für das Erdgeschoss und fange wie wild an auf den Tür-schließen-Knopf zu hämmern. Die Rückwand der Kabine verbeult sich immer weiter unter dem Kugelhagel aus dem Korridor. Unendlich langsam schließt sich die Tür, aber letztendlich setzt sich der Fahrstuhl mit mir drin in Bewegung.
Als sich die Türen endlich öffnen, trete ich aus dem Aufzug in einen Raum, der völlig in Dunkelheit getaucht ist. Es dauert eine Weile, bis sich meine Augen an die Finsternis gewöhnen und ich mich im Raum umsehen kann. Auf den ersten Blick erinnert es mich an den Serverraum. Die Racks hier sind jedoch größtenteils im Boden versenkt. Nein. Moment. Das stimmt nicht.
Gerade als mir bewusst wird, was ich da sehe, geht das Licht an.
11
Ich halte mir die Arme schützend vor die Augen. Blind und orientierungslos drehe ich mich im Kreis.
„Mr. Lamont! Wo wollen Sie denn hin? Gefällt ihnen Ihr neues Zuhause etwa nicht?“
„Steiner! Sie Monster! Wie können Sie Säuglinge für Ihre kranke Mathematik missbrauchen?“
Von irgendwo aus dem Raum ertönt ein grässliches Lachen. „In Ihrer Welt ist immer alles ganz einfach, nicht wahr?“
Ich drehe mich um und senke langsam meine Arme. Tatsächlich – dort steht Steiner. Und er hat Abby. Und eine Pistole.
„Kryptowährungen sind die Zukunft. Das alte Geld ist tot. Aber die Regierungen verlangen, dass es ökologisch hergestellt wird. Nachhaltig.“ Er sieht angewidert aus. „Für uns war es aber der große Moment im Rampenlicht, als die frühen Kryptowährungen verboten wurden.“
„Statt Energie verbrauchen Sie nun Menschen,“ sage ich verächtlich. „Und was ist aus der ursprünglichen Idee von EcoFin geworden?“
„Sie meinen produktive Arbeit für Autisten? Das machen wir immer noch.“
Ich blicke ihn verständnislos an.
„Lamont. Überlegen Sie doch mal. Natürlich bieten wir Arbeit für Autisten. Aber die Arbeit hier erfordert eine gewisse Inselbegabung. Und davon gibt es leider zu wenige, die den Weg zu uns finden. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viel Rechenleistung so eine Operation braucht.“
Die Implikation hinter seinen Worten macht, dass sich mir der Magen umdreht. „Und deshalb züchten Sie sich Ihre Computer hier heran?“
Erneut dieses widerwärtige Lachen. „Ja auch. Aber es ist selten, dass unsere Computer trächtig werden. Wir versuchen es natürlich immer wieder. Gott sei Dank gibt es noch andere Quellen. Sie glauben gar nicht, wie viele Mütter ihre Kinder einfach so fortgeben. In manchen Fällen müssen wir nicht einmal mit Geld nachhelfen. In einem so frühen Stadium ist es ein Leichtes, das Gehirn der jungen Dinger nachzubearbeiten.“
Er nimmt die Pistole von Abbys Kopf und richtet sie auf mich.
„Es tut mir leid, dass das so enden muss. Ich hasse es, Rechenleistung zu vergeuden.“
Abby, die bisher völlig katatonisch wirkte, fixiert mich schlagartig mit ihren stahlblauen Augen. Ich erkenne gerade noch rechtzeitig, was sie vorhat. Kaum merklich beugt sie ihren Kopf nach vorne und schmettert ihn im nächsten Moment mit voller Wucht nach hinten an Steiners Kinn. Er kommt ins Straucheln. Ich lasse mich zur Seite fallen und zerre an der Pistole in meinem Hosenbund. Blut rauscht in meinen Ohren. Ich kneife ein Auge zu, lege an und feuere.
Steiner taumelt mit einem Loch im Kopf zurück. Er sinkt tot zu Boden und reißt dabei Abby mit sich. Ich renne zu ihr, um ihr aufzuhelfen.
Als ich näher komme, sehe ich, dass ihre Seite blutverschmiert ist. Mir ist sofort klar, dass das nicht Steiners Blut sein kann. Ich knie mich zu ihr und nehme ihre Hand in meine.
Überraschenderweise lächelt sie mich an. Blut läuft ihr zwischen den Zähnen aus dem Mund. Ich sehe wie sich ihre Lippen bewegen und bringe mein Ohr so nah wie möglich an ihre Lippen.
„Phoebe“, flüstert sie. Sie deutet auf einen kleinen Kasten zu meiner Rechten. „Ihr Name ist Phoebe.“
In der rechten oberen Ecke des Kastens ist ein kleiner Aufkleber auf dem FEBEBC33 steht. Ich blicke noch einmal zu Abby, aber ihre Augen sind bereits glasig und leblos.