Magic Future Money - Geschichte Nr. 02

Seelenheil

Seelenheil

Sie legt ihren linken Arm nicht aufs Bett, sondern streichelt mit der Rechten Luisas bleiche Haut, auch wenn sie sich in der engen Nische dafür verdrehen muss. Aber sie würde den Anblick der roten Wülste gegen die weißen Laken nicht ertragen.

Alles umsonst. Luisa liegt hier vor ihr und stirbt, und sie kann nichts dagegen tun. Alles, was sie dagegen zu tun versucht hat, hat nichts gebracht; ihr selbst nur die Aussicht auf ein paar Monate im Gefängnis, wenn Luisa tot ist. Diese Gnadenfrist zumindest haben sie ihr gewährt.

„Kann ich eine Cola haben?“, fragt sie, als der Pfleger seinen Kopf um das Wandpanel herum in Luisas Nische streckt.

Er vermeidet den Blick auf ihren linken Arm, aber eben weil er so krampfhaft nicht dorthin guckt, weiß sie, was er denkt.

„Ich fürchte, die gibt’s im Stations-Kühlschrank nicht, aber …“

„Oh, wie toll, Sie alle sollen einfach Feierabend machen, wenn Sie müde sind, statt aufputschende Dinge zu sich zu nehmen“, antwortet sie.

Ohne auf ihren Sarkasmus einzugehen, sagt er: „Ich kann Ihnen ein Wasser bringen oder Tee.“

„Saftladen“, murmelt sie. Ihre Enttäuschung über all das hier laut zu äußern, hat sie längst aufgegeben. Es bringt nichts. Das ganze transparente System hat Wände aus Panzerglas.

„Eine Schorle können Sie auch haben, Susanne“, sagt der Pfleger und zwinkert ihr zu. „Und“, jetzt guckt er doch auf ihren Arm, „wenn Sie sonst noch was brauchen, gehe ich nachher gerne mit Ihnen einkaufen. Ich weiß ja nicht, wie Sie jetzt …“

Sie winkt ab. „Essen wird überbewertet.“ Sie dreht sich endlich richtig zu ihm um. „Aber nett, dass Sie fragen!“

Luisa hat Leukämie. Sie ist austherapiert, obwohl sie erst sieben ist. Alle schulmedizinischen – Jake hat immer gesagt, „lass das ‚schul‘ weg, alles andere ist Hokuspokus“ – Behandlungen haben versagt. „Nicht angeschlagen“ hat Jake immer gesagt oder „es ist eben eine aggressive Form“, aber nun hat sie schon seit Wochen nichts mehr von Jake gehört. Und sie weiß, dass die Ärztinnen hier versagt haben, weil sie eben nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft haben.

Sie selbst wollte alle Möglichkeiten ausschöpfen. Wenn Luisa ohnehin stirbt – in den Augen dieser unbeteiligten … wie können sie sich überhaupt Menschen nennen, diese kaltherzigen Medizin-Maschinen? –, warum dann nicht alles ausprobieren? Weil es nicht effektiv wäre, weil es Geld gekostet hätte, das jetzt an anderer Stelle sinnvoller eingesetzt wird; das weiß sie, auch wenn es so natürlich niemand formuliert hat. Musste auch niemand. Der Chip hat ihr die ungestellten Fragen beantwortet.

Nach einem Jahr im Therapiezentrum haben sie Luisa auf die Hospiz-Station verlegt und Jake und ihr geraten, sich gegenseitig auf den Abschied vorzubereiten. Aber wie könnte eine Mutter das, solange nicht wirklich alles versucht ist, solange nicht der Tag gekommen ist, an dem Luisa die Augen tatsächlich nicht mehr öffnet, nicht mehr ihr kleines, tapferes Lächeln lächelt, nicht mehr den Finger hebt, wenn man ihre Haut streichelt, nicht mehr atmet?

Stattdessen hat Susanne alles gelesen, was es zu lesen gab, im Internet, im Darknet und sogar in der Bibliothek der Uni, weil sie nicht darauf vertraut hat, dass alle Bücher, die irgendwelchen hohen Herrschaften vielleicht nicht gesellschaftskonform genug sind, auch tatsächlich digital zugänglich sind. Sie war auf okkulten Treffen, die sie ein wenig dubios fand, aber wenigsten hat sie dort die richtigen Tipps bekommen, und nach sechs Wochen wusste sie, was sie ausprobieren wollte. Nein, was Luisa ausprobieren musste, was Luisas letzte Chance war: ein Heiler.

Sie hat angerufen und einen Termin vereinbart und zum ersten Mal seit fünfzehn Monaten Luisas Seite mit gutem Gewissen verlassen, weil sie wusste, dass sie den Weg aus dem Tal gefunden hat. Doch dann die Ernüchterung. Sie müsse die Zutaten selbst besorgen. Kaufen. Bezahlen.

Wegen Luisas Krankheit hat sie ihre Stunden beim Shuttle-Service reduziert; sie fährt nur noch Nachtschichten, wenn Luisa, von den Medikamenten – oh, diesen nutzlosen Tropfen und Pillen! Warum lassen sie sie nicht weg, wenn sie ohnehin nichts nutzen, und gewähren ihr und Luisa so ein paar schöne, lebhafte Wochen? – so bedöst ist, dass sie schläft. Auf Jake braucht sie nicht zählen. Im Hospiz laufen sie sich nicht über den Weg; zu Hause auch schon seit Wochen nicht mehr – sie könnte nicht mal sagen, ob er offiziell ausgezogen ist, so wenig Energie hat sie, in seine Schränke zu schauen, welche Sachen vielleicht verschwunden sind. In den wenigen Stunden, die sie am Tag zu Hause verbringt, schläft sie – wenn sie das nicht schon im Hospiz getan hat und direkt von dort aus zur nächsten Schicht aufbricht. Manchmal schafft sie es noch unter die Dusche. Essen tut sie im Shuttle. Oder an Luisas Bett, wenn die eingeschlafen ist. Sie will sie nicht mit den Gerüchen quälen; Luisas zerstörte Schleimhäute lassen schon seit Monaten keine Nahrungsaufnahme über den Mund mehr zu.

Mit der Stundenreduzierung gingen die Ausgabenreduzierungen einher. Anfangs konnte sie noch ein paar Dinge auswählen. So ist sie nicht mehr essen gegangen. Wann auch und mit wem? Sie hat keine Getränke mehr gekauft, sondern Leitungswasser genommen. Aber als der Chip bei jeder Süßigkeit im Einkaufswagen und dem wöchentlichen Fischgericht piepte, war es mit der Selbstbestimmung vorbei.

Es ist gut, dass der Chip einen vor zu hohen Ausgaben warnt. Susanne hat diese Entwicklung sehr begrüßt. Sie gehört sogar zu denjenigen, die sich den Chip noch freiwillig haben implantieren lassen, als er 2030 aufkam. Beim Shuttle-Fahren hat sie direkt davon profitiert: keine nervigen Diskussionen über den Fahrpreis mehr, kein Falschgeld, keine nicht-funktionierenden Karten, und Leute, die „ihren Geldbeutel zufällig vergessen“ hatten, konnten gar nicht erst einsteigen, weil deren Chip die Türen geschlossen hielt.

Sauber und gerecht, so empfand sie es in den ersten Jahren. Keine gläsernen Menschen, die Steuererklärungen blieben weiterhin geheim, aber immerhin konnte nun niemand mehr keine Steuererklärung abgeben oder dabei mogeln, weil eben alle Daten auf dem Chip gespeichert sind. Keine Panama-Papers, keine Briefkastenfirmen mehr, keine windigen Geldverschiebungen, sondern nur noch ehrliche und transparente Geschäfte. Gut, reiche und arme Leute gab es immer noch, gibt es auch heute noch, aber zumindest fühlte sich in den Anfangsjahren niemand mehr ungerecht behandelt, denn endlich zahlten die Reichen auch tatsächlich den Solidaritätsbeitrag, der seit jeher in unserer Gesellschaftsform verankert ist. Die Schulen wurden saniert, die Klassen halbiert, und das Geschrei der Ewiggestrigen von wegen „die Kinder lernen den Umgang mit Geld nicht, wenn sie nie real mit Scheinen und Münzen bezahlen“ verstummte schnell, als Wirtschaften und Taschengeld ab der Grundschule Pflichtfächer wurden. Keine Privatinsolvenzen mehr oder überschuldete Jugendliche, weil niemand mehr kaufen konnte, als er zu bezahlen in der Lage war. Die Wälder wurden aufgeforstet und Parks in die Innenstädte zurückgeholt. Kaum noch Tote durch Lungenkrebs, weil sich viel weniger Menschen Zigaretten leisten konnten, und Alkoholexzesse ebenso wenig. Die Krankenhäuser mussten keinen Profit mehr erwirtschaften, weil niemand mehr Operationen durchführte, die nicht wirklich notwendig waren – denn die bezahlte der Patientenchip schlicht nicht. So blieben die Menschen schließlich wieder für die Sachen, die sie brauchten, exakt so lange, wie es gut für sie war, in Behandlung. Die Hebammen-Branche erlebte einen Boom und alle waren glücklich.

Alle, bis auf diejenigen mit einem schlechten Schicksal. Denn natürlich gibt es weiterhin Verbrechen und tödliche Autounfälle – und eben Krankheiten, die schulmedizinisch nicht in den Griff zu bekommen sind.

Noch auf dem Weg hierher, als sie an einem Supermarkt vorbeigekommen ist, hat sie eine Gruppe Demonstrierende gesehen: Auf ihren Pappschildern fordern sie „freie Waren für alle“, weil sie sich bestimmte Produkte offensichtlich nicht leisten können. Zumindest nicht dürfen; nicht selbst entscheiden dürfen, einmal unvernünftig einzukaufen und dafür in der nächsten Woche an anderer Stelle zu sparen.

Susannes Mutter hat ihr davon erzählt, dass die Gitterboxen, die vor den Supermärkten stehen, und in die Reiche Spenden legen können, früher für Tierfutter waren. Das ging dann an Tierheime. Heute sind die Boxen eigentlich immer leer; nur aufgebrezelte Stöckelschuhträgerinnen, die mal wieder das echte Leben spüren und statt einer Drohnenlieferung selbst einkaufen wollen, legen dort manchmal teure Übersee-Importe oder andere D-klassifizierte Waren ab. Diese Damen sind wohl überrascht davon, was sie ob der lange nicht mit eigenen Augen gesehenen Fülle in den Regalen in ihren Einkaufswagen gepackt haben, wenn sie nicht aus Herzensgüte mehr kaufen, um etwas geben zu können. Binnen Minuten sind diese Boxen allerdings von ärmeren Einkaufenden oder versprengten Demogruppen geplündert.

Auch Susanne empfindet sich so: unglücklich, da ungerecht vom Schicksal geschlagen. Denn sie kann die notwendigen Zutaten für Luisas Medizin nicht kaufen, weil der Chip die Zahlung dafür verweigert, sie als nicht notwendig, nicht in ihrem Budget sinnvoll klassifiziert.

Natürlich hat sie alles versucht. Schließlich hat sie den Heiler extra ausgewählt, weil er auf alternativen Pfaden unterwegs ist. Und am Telefon eine so sympathische rauchige Stimme hatte.

„Also, für meine Leistungen könnten wir uns schon …“, sagte der Heiler, als sie das erste Mal zu ihm gefahren war, „auf … alternative Bezahlungsweisen einigen.“

Sie hatte ihn angestrahlt, auf dieses Entgegenkommen hatte sie gehofft; ihm lag doch das Wohl der Welt ebenso am Herzen wie ihr.

Er schloss kurz die Augen, als überschlage er im Kopf, was er brauche, und zählte dann auf: „Für mein tägliches Gebet von hier aus über einen Zeitraum von drei Monaten, mehr werden nicht nötig sein, und das Anrühren der Gabe, wenn du alle Zutaten besorgt hast, meine Besuche bei Luisa, einmal, um die Entgiftung zu starten und dann alle zwei Tage zur Akupunktur … fünftausend.“

Sie schluckte, doch was war schon Geld, wenn es um Luisa ging? Und er musste schließlich auch von irgendetwas leben. Doch als sie ihm verschiedene Tauschmodalitäten anbot, schüttelte er jeweils den Kopf.

„Weißt du“, sagte er, „ich bin ja nicht erst seit gestern im Geschäft. Für meine Kleidung“, er strich über seine offensichtlich selbstgenähte Weste, „habe ich zum Beispiel schon eine zuverlässige Quelle.“

Ihre Arbeitskraft belächelte er mit einem Blick auf ihre schmalen Hände, doch was sie zu hören bekam, war: „Dafür hast du doch gar keine Zeit. Wer soll sich denn um Luisa kümmern, wenn du hier stundenlang bei mir putzt?“

Sie wollte einwenden, dass sie ja später, wenn es Luisa wieder besser ging, mit ihr zu ihm kommen könnte, brach aber ab, als sie sein entschlossenes Kopfschütteln sah. Sie konnte ja auch verstehen, dass er nicht mit allen Leuten irgendwelche Zukunftsgeschäfte abschließen konnte. Wie sollte er da seinen aktuellen Alltag organisieren? Und besondere Lebensmittel, überhaupt Lebensmittel konnte sie nicht beschaffen; sie war ja froh, dass sie über den Chip ihren eigenen Kalorienbedarf befriedigen konnte.

Also zuckte sie mit den Schultern. „Mir fällt nichts mehr ein“, sagte sie.

Der Heiler blickte sie mit schräggelegtem Kopf einen Augenblick an, lächelte dann und fuhr ihr mit den Fingerspitzen über die Innenseite ihres Unterarms. „Eine Sache wüsste ich doch noch. Sie kostet dich auch nichts und geht schnell.“

Sie zuckte zurück. Doch sie lief nicht weg. Für Luisa? „Ich überleg’s mir“, presste sie hervor, fischte die Liste mit diesen so exotisch anmutenden Namen wie Spirulina-Algen oder Heavy-Metal-Support-Kapseln – sie hatte ja noch nicht einmal etwas von Gerstengras gehört, obwohl dabei wenigsten das Wort auf den ersten Klang vertraut wirkte – von seiner Schreibtischkante.

„Mit den Gebeten beginne ich gleich heute!“, rief er ihr noch nach.

Sie drehte sich zu ihm um.

„Wir wollen doch keine Zeit verlieren, oder?“

Sie hielt ihm ihre leeren Handflächen entgegen. Würde er sie tatsächlich unbezahlt unterstützen?

„Ich vertraue den Menschen und ich vertraue auch dir, dass du meine Leistungen honorieren wirst.“

„Atme, Luisa, atme“, flüstert sie ihr zu und streicht über den Rand von Luisas Wange, wo sie ein bisschen Haut erreichen kann. Nicht mal zu zusätzlichem Sauerstoff hatte sie die zuständige Ärztin überreden können. Die hatte nur die Stirn gerunzelt, als Susanne angefangen hatte, von Chlorophyllanreicherung zu sprechen. Aber wenigstens bei ihrem Saftladen-Pfleger stieß sie nicht mit all ihren Bitten auf taube Ohren. Und so sorgte der dafür, dass Luisa eine Sauerstoffmaske bekam, wenn die zuständige Ärztin nicht da war, weil die Bereitschaftsärztinnen nicht ohne Aufforderung bei Luisa vorbeischauen würden, denn das hätten sie nicht abrechnen können. Wie er das mit der Bezahlung der Maske regelte, wusste Susanne nicht und wollte es auch nicht wissen. Keine Kapazitäten für weitere Baustellen.

Luisas Gesicht wirkt noch winziger unter der Plastikmaske. Vielleicht nur, weil von ihr so viele Schläuche zu Tropfs und irgendwelchen Geräten führen und alles drumherum so wuchtig wirkt, als stürze dauernd ein Bergmassiv von allen Seiten auf sie ein. Kein Wunder, dass für eine Mutter kein Platz in der Nische mehr ist, um sich bequem ans Bett ihrer Tochter zu setzen. Noch ist das Gebirge nicht zusammengekracht. Noch atmet Luisa.

„Atme, mein Schatz, atme tief.“

Sie brauchte Cash. Möglichst viel. Für die Zutaten auf jeden Fall und am besten auch noch für den Heiler. Damit ihr diese … andere Bezahlart erspart blieb. Und Cash gab es seit mittlerweile fünf Jahren ausschließlich in Form von Datenübertragung per Chip.

Wenigstens hatte sie keine Zeit mehr, Geld für andere Dinge auszugeben. Und weil sie nur noch einmal am Tag aß, schuf sie sich winzige Spielräume, sodass sie sich eine Infrarot-Sauna für die Ausschwemmung der fettlöslichen Gifte ganz offiziell bestellen konnte. Als ob an Luisas Körper noch irgendwo Fett wäre … Aber sie hatte verstanden, dass es um Prozesse innerhalb der Zellen ging. Und über den Rest dachte sie nicht nach, hakte mechanisch auf der Liste des Heilers ab, was sie erledigt hatte. Auch für die Support-Kapseln, die beim Entgiftungsprozess unterstützen sollten, legte sie ein wenig zur Seite. Ob das zu seiner Chelattherapie gehörte, die Blei und Quecksilber aus dem Köper transportierte, wie der Heiler ihr erklärt hatte, wusste sie nicht. Ihr waren die Hintergründe inzwischen auch egal. Was sie noch vor wenigen Monaten so intensiv studiert hatte, schien in ihrem Hirn in einem Strudel bleierner Müdigkeit untergegangen.

Beinahe jeden Abend auf der Heimfahrt telefonierte sie mit dem Heiler. Seine rauchige Stimme beruhigte sie, und beim letzten Mal hatte er ihr sogar versprochen, ihr ohne Aufschlag Ansatzflüssigkeit für das Kombucha zu schicken, sodass sie keine teuren Fertiggetränke kaufen musste, sondern aus Tee und Pilz ihr eigenes fermentieren konnte.

An das Gerstengras zu kommen, war beinahe zu leicht. Sie schnitt einfach bei einem kleinen Umweg vom Hospiz mehrere Büschel junger Triebe ab und brachte sie dem Heiler vorbei. Er würde besser wissen, bei welcher Temperatur genau es wie zu pulverisieren war. Aufmunternd lächelte er ihr zu, als er die Tür öffnete, nachdem sie kurz geklingelt und den Karton auf seine Schwelle gestellt hatte. Sie sah es im Rückspiegel, denn sie musste nach Tagen wirklich wieder einmal zu Hause vorbeischauen, sich umziehen und duschen, auch wenn ihr Lieblings-Saftladen-Pfleger manchmal Schmiere stand, damit sie das in einer Krankenhaus-Nasszelle erledigen konnte.

Und schließlich brachte ihr sogar Jana noch Curcumin vorbei. Ihr standen Tränen in den Augen, als sie die Dose von ihr entgegennahm.

„Ich weiß gar nicht, ob ich das Richtige tue, Susanne“, sagte Jana. „Ich will deinen Wahn nicht auch noch befeuern.“

Sie erwiderte nichts. Für einen weiteren Streit fehlte ihr schlicht die Kraft. Gerade von ihrer ältesten Freundin hatte sie mehr erwartet. Verständnis dafür, dass sie nach jedem Strohhalm griff. Unterstützung. In irgendeiner Form, und wenn es transaktierter Cash auf ihren Chip war. Oder noch besser direkt an den Heiler, denn sie selbst bewegte sich ja immer so am Rande des Minimallevels, dass sie fürchtete, der Chip würde sich weigern, die Rechnung des Heilers zu bezahlen. Aber Jana hatte ihr klipp und klar gesagt, dass sie von der Idee mit dem Heiler nichts hielt. Obwohl sie selbst im Reformhaus arbeitete.

Ein paar hässliche Worte waren gefallen, darunter „verrennen“, „Biozicke“ und „Scharlatan“. Da hat sie aufgegeben, noch bevor sie irgendwelche anderen Freunde aus der Zeit, in der sie noch Gelegenheit gehabt hatte, mit irgendwem Kontakt zu halten, gefragt hatte. Eltern, die einzigen, von denen sie sich schon allein ihrer eigenen Gefühlslage wegen Unterstützung hätte vorstellen können, haben Jake und sie beide nicht mehr. Und Wertgegenstände auch nicht. Als Letztes hat sie vor einem halben Jahr ihren Ehering einschmelzen lassen, um sich nicht auch noch Gedanken um die Wohnung machen zu müssen, wenn es mit der Miete mal eng wird. Ein Umzug ist das Letzte, für das sie jetzt noch einen Kopf hat. Ein sicheres Zeichen übrigens, fällt ihr da auf, dass Jake noch nicht offiziell ausgezogen ist – also mit Ummeldung, wohnen kann er natürlich sonst wo –, denn sonst hätte der Chip bei der monatlichen Abbuchung der halben Miete längst angeschlagen, gemeldet, dass die andere Hälfte von der Vermieterin als fehlend deklariert worden ist, und ihr einen Umzug in eine adäquate Wohnung vorgeschlagen. Dabei braucht sie die größere Wohnung, wenn Luisa wieder zu Hause ist.

Aber nun war Jana hier. Susanne steckte die Dose ein und bedankte sich.

Jana beugte sich zu Luisa hinunter und streichelte ihren Handrücken. „Mach’s gut, Süße“, sagte sie und wischte sich ebenfalls Tränen ab.

Auf der Liste standen noch verschiedene Algen für den Superfood-Drink. Sie hatte sich den Kopf zerbrochen, wie sie an die herankommen könnte, aber alle Möglichkeiten waren ausgeschöpft. Jake ging nicht mal mehr an sein Handy und woher er immer wusste, wann sie Schichten fuhr oder ob er überhaupt nicht mehr zu Luisa ins Hospiz ging, wusste sie nicht. Ihr Saftladen-Pfleger beteuerte auf jeden Fall regelmäßig, dass Jake dagewesen sei, aber sie traute ihm auch durchaus zu, dass er zu ihrer Beruhigung log.

Übrig blieb nur ein Einbruch. Was sich ja nicht so mal eben in die Tat umsetzen ließ, wenn man keine Ahnung davon hat und auch niemanden dazu befragen kann. Außer: das Internet. Aber da wollte sie natürlich keine Spuren hinterlassen. Außerdem lief ihnen die Zeit davon, sie sah es Luisa an. Die Gebete des Heilers allein zeigten noch keine Wirkung.

Also brach sie schließlich eines Nachts einfach in einer Algenfarm ein. Sie hatte das Gelände ein paar Mal tagsüber umrundet und keine Kameras entdeckt. Nur ein normaler Zaun, den sie mit einem Seil, das sie an den Zacken oben verhakte, überklettern konnte. Kurz kamen ihr Zweifel, ob die Algen überhaupt so wertvoll waren, wie sie hoffte. Wenn auch das Gebäude so leicht zu erstürmen wäre … Sie schlug ein Fenster auf der straßenabgewandten Seite ein und brach mit über die Hand gezogener Jacke größere Scherbenstücke weg, sodass sie einsteigen konnte, ohne sich zu schneiden. Noch immer geschah nichts. Sie ging durch die Reihen. Wenn dort keine Tanks gestanden hätten, sondern kniehohe Metallplatten mit Erde und Pflanzen darauf, hätte es wie eine normale Gärtnerei gewirkt. Wasserschläuche, Temperaturfühler und abgestimmtes Licht – was eben alle Pflanzen so brauchen. Sie ging weiter, bis sie zu einem Raum kam, in dem die frisch geernteten Algen offensichtlich verarbeitet wurden. Ihr Herzschlag setzte für einen Moment aus, als sie Geräusche darin hörte, doch als sie vorsichtig durch das Bullauge in der Tür blickte, sah sie niemanden; die Maschinen schienen autonom rund um die Uhr zu laufen. Sie stieß die Schwingtür einen Spaltbreit auf und schlüpfte hindurch. Von den Förderbändern hin zur Verarbeitung griff sie sich Spirulina und Chlorella; sie war erleichtert, dass sie hier beide Arten, die sie brauchte, bekam.

Als sie die beiden großen Dosen wieder in ihrem Wanderrucksack verstaut hatte, flammte das Deckenlicht in der Halle auf. Zwei Polizistinnen kamen auf sie zu tun.

„Ganz ruhig, Frau Neumeister“, sagte die eine.

„Setzen Sie den Rucksack ab und kommen Sie zu mir“, sagte die andere.

Sie war also aufgeflogen. Alles war vorbei. Natürlich floh sie nicht. Wenn sie ihren Namen kannten, wussten sie auch alles andere. Also auch, dass sie nur ins Hospiz zu fahren brauchten, um sie beim nächsten Mal abzufischen. Warum also jetzt weglaufen? Dass sie auf eine Rückkehr an Luisas Bett verzichten würde, kam nicht infrage – das wussten die Behörden so gut wie sie.

Was also tun? Sie konnte nichts tun. Nichts mehr! Sie hatte alles getan, was in ihrer Macht stand und auch Dinge, die weit über ihr Vermögen hinausreichten.

Als die Polizistinnen auf sie zutraten, implodierte etwas in ihr. All die aufgestaute Verzweiflung verrauchte, zurück blieb nur ein schwelendes Häuflein Hass. Hass auf das ungerechte System, das ihre Tochter unschuldig sterben ließ. Hass auf diejenigen, die gerade vor ihr standen, weil die Ärztinnen nicht greifbar waren. Hass auf den Chip, der ihr vorschrieb, was sie zu wollen hatte.

Sie schlug und trat um sich und spuckte und geiferte und biss. Schließlich biss sie sich in den Arm, biss den Chip aus ihrem Unterarm heraus, bevor jemand ihr eine Spritze verpasste und sie zur Ruhe kam.

Sie streicht Luisa über die bleiche Haut, und die hebt einen Finger. Das kann sie immer noch, ein letzter feiner Verbindungsfaden, obwohl wieder zwei untätige Wochen vergangen sind. Beide lächeln. Es ist unbequem, so mit der rechten Hand in der engen Nische verdreht, aber sie legt ihren linken Arm nicht aufs Bett, sie würde den Anblick der roten Wülste gegen die weißen Laken nicht ertragen. Sie kann sie noch lange genug anschauen, wenn das hier vorbei ist, in den Monaten im Gefängnis. Anschauen und nachdenken oder noch einmal zubeißen, bis es auch für sie vorbei ist und Luisa und sie wieder zusammen sind.