Schöne teure Welt
Alex fühlte sich beobachtet. Unschlüssig stand er vor der Kühltheke mit der Aufschrift “Preiskategorie 3” und wühlte in den verpackten Sandwiches. Schließlich zog er einfach irgendeines heraus und stopfte es in seine Aktentasche. Alex musste hier raus.
Er verließ den Supermarkt durch den Hauptausgang. Die Lichtschranke piepte kurz, als er sie durchschritt, das Display des Payers an seinem Handgelenk leuchtete auf.
„Schlussrechnung: drei Limitpunkte. Verbleibende Limitpunkte: zwei. Vielen Dank für Ihren Einkauf, Mister Harper!“
Alex hielt das Display zu, versuchte, den Ton zu ersticken. Zum Glück war der Monat fast vorbei, er brauchte seine Sandwiches.
Er tauchte in das strahlende Weiß der Straßen ein. Die Sonne blendete, stach hell zwischen den Wolkenkratzern hindurch. Nur der Schatten eines vorbeifliegenden Hoverjets verschaffte seinen Augen einen kurzen Moment der Erleichterung. Die obere Ebene hatte auch so ihre Nachteile.
Unauffällig sah Alex sich um. Niemand schien ihm zu folgen, aber wie konnte man sich hier jemals sicher sein? Hell gekleidete Passanten drängten sich wie ein Ameisenheer über die Fußgängerebene, wälzten sich in einem breiten Strom durch die Straßen, vorbei an den weißen Gebäuden, weißen Sitzbänken, weißen Laternen, weißen Holosäulen. Wie Alex diesen Anblick hasste. Wenigstens die sattgrünen Bäume und der tiefblaue Himmel setzten sich in deutlichem Kontrast von diesem Einheitsbrei ab.
Alex wollte sichergehen, dass er keinen Schatten hatte. Das hieß mal wieder eine Runde um den Block. Er bog in eine Versorgungsgasse ab. Die Farbe blätterte hier schon von den Wänden, ließ das Grau darunter zum Vorschein kommen. Ein paar Müllvernichtungscontainer standen herum, ansonsten lag die Gasse verlassen da.
Alex machte sich an die Durchquerung. Immer wieder warf er einen Blick zurück, hielt den Kopf eingezogen und die Hände in den Hosentaschen. Hoffentlich tauchte dieser verdammte Zwerg nicht wieder auf! Oder hatte er den kleinen Mann heute nur zufällig mehrmals gesehen? Alex verfluchte sich für seine Paranoia.
“Hey.”
Er machte einen Satz zur Seite. Hinter einem Müllvernichter kauerte eine Gestalt mit Vollbart und abgeranzten Klamotten.
“Sorry, ich wollte Sie nicht erschrecken. Haben Sie vielleicht ‘ne Kleinigkeit für mich?”
“Was haben Sie hier zu suchen?” Alex hob angewidert die Hand vor die Nase.
“Bitte, nur ein paar Bonuspunkte. Ist doch nur ein kleiner Swipe.” Der Bettler wedelte bedeutend mit seinem Payer und zeigte mit seiner anderen Hand auf Alex’ Handgelenk.
“Verschwinden Sie auf die untere Ebene, wo Sie hingehören. Wie sind Sie überhaupt hierhergekommen?” Alex ließ seinen Finger drohend über dem Display schweben. Er bluffte. Alex würde unter keinen Umständen Kontakt mit den Behörden aufnehmen.
“Nein, bitte! Ich falle gar nicht auf! Ich störe niemanden, versprochen! Nur etwas zu essen? Bitte?”
Alex zog eine Dose aus seiner Umhängetasche und warf sie dem Bettler zu. Es war ein Deo. Alex hielt seine Nase immer noch bedeckt, als er weiterlief.
“Haltet euch für was Besseres hier oben, was? Ich sag dir was! Ich war auch mal einer von euch, merk dir das! Ich war auch mal einer von euch!”
Alex drehte sich nicht mehr um. Sollte der Kerl sich doch die Seele aus dem Leib schreien. Hauptsache, er war ihn los.
Er atmete erst auf, als er wieder vor dem Supermarkt ankam. Niemand war ihm gefolgt, kein Bettler, kein Zwerg und auch sonst kein Schatten, soweit er das beurteilen konnte. Das Laufen im Kreis hatte sich gelohnt.
Alex musste sich was gönnen, überlegte er sich, als er auf die Hovertaxi-Station zustolperte. Was war denn heute nur mit ihm los?
“Einen Kaffee, bitte.” Alex hielt seinen Payer an das Lesegerät des kleinen Kiosks. Ein Fehlergeräusch ertönte.
“Tut mir leid”, lächelte der Kioskbesitzer, “wie es scheint, haben Sie nicht mehr genug Limitpunkte. Möchten Sie Ihr Limit mit Bonuspunkten aufstocken?”
“Nein, danke. Schon in Ordnung.”
“Na, morgen ist ja zum Glück Monatswechsel. Da spart wohl jemand für den Klassenaufstieg, was?” Der Ladenbesitzer zwinkerte. “Das unterstütze ich doch gerne.”
Der Mann swipte über sein Display nach oben. Alex’ Payer bekundete mit einem Piepen, dass der Verkäufer ihn mit zehn seiner Sozialpunkte bewertet hatte. Alex erhielt also nur zehn lausige Bonuspunkte. Der würde schon sehen.
Alex lächelte den Kioskbetreiber an und strich ebenfalls über sein Display.
„Fünf Sozialpunkte gespendet. Mister Garcia hat fünf Bonuspunkte erhalten. Verbleibende Sozialpunkte für diesen Monat: 2435.” Alex hielt wie beiläufig seinen Payer zu. Musste ja niemand wissen, dass er nur wenig Trinkgeld verteilte, obwohl die Sozialpunkte für nichts anderes gut waren. Warum konnte man diesen verdammten Ton nicht abstellen?
“Wie viele Bonuspunkte fehlen denn noch bis zum Klassenaufstieg?” Der Ladenbesitzer tat so, als hätte er noch nicht auf sein Display geguckt. Er lächelte zwar weiterhin, aber es wirkte jetzt weitaus lustloser als vor der Begegnungsbewertung. “Sind es schon weniger als 100.000?”
Alex hörte nicht mehr zu, Entsetzen spiegelte sich in seiner Miene. Oben an der Rampe, auf der die Hovertaxis zum Abflug bereitstanden, ließ ein kleinwüchsiger Mann den Blick über die Menge schweifen. Der Zwerg folgte ihm, Alex war sich ganz sicher. Stellten die Behörden überhaupt Kleinwüchsige ein? Egal, jetzt erstmal nichts wie weg!
Alex drängelte sich in Richtung Schleuse zu den unteren Ebenen und kassierte missmutige Blicke. An den Drehkreuzen angekommen, piepste sein Payer warnend auf:
“Mister Harper, Sie sind im Begriff, die obere Ebene zu verlassen. Als Gesellschaftsmitglied der Klasse IV stehen Ihnen viele der oberen Bereiche zur Verfügung. Aus Sicherheitsgründen raten wir Ihnen, diese Ebene nicht zu verlassen. Nutzen Sie doch einfach eines unserer komfortablen Hovertaxis! Möchten Sie dennoch fortfahren?”
Alex fluchte. Was zur Hölle tat er hier eigentlich? Er war völlig unkonzentriert, musste dringend einmal tief durchschnaufen. Da unten würde er auffallen wie ein bunter Hund! Da konnte er sich dem Zwerg auch gleich vor die Füße legen. Alex blieb keine Wahl. Es war mal wieder Zeit.
“Sind Sie wahnsinnig?!” Die Dame, die den Flur der öffentlichen Toilette beaufsichtige, sprang auf, als Alex ihren Stehtisch anrempelte. Mit einer hastigen Entschuldigung verzog er sich auf die Herrentoilette, die Flurdame swipte ihm zornig hinterher.
Bis auf einen Reinigungsroboter, der gerade die gekachelten Wände neben den Pissoiren schrubbte, war die Toilette leer. Alex verzog sich in eine der Kabinen, schloss die Tür hinter sich und schob den Riegel vor.
Sein Payer piepte auf: “Gegen Sie wurde eine Klage wegen Störung der öffentlichen Ordnung eingereicht. Ihnen wurden fünfhundert Bonuspunkte von Ihrem Konto abgezogen. Als Gesellschaftsmitglied der Klasse IV haben Sie vierzehn Tage Zeit, Revision gegen die Klage einer Privatperson zu beantragen. Möchten Sie das Video der Überwachungskamera und ein Gesprächsprotokoll des Vorfalls herunterladen?”
Auf Alex’ Kontaktlinse wurden zwei Dateien projiziert, die zum Download bereitstanden.
“Nein, abbrechen!”
“Der Download wurde abgebrochen. Bitte verhalten Sie sich zukünftig der öffentlichen Ordnung entsprechend.”
Alex atmete aus. Auf dem geschlossenen Toilettendeckel sitzend, die Füße angezogen, lauschte er angestrengt. Außer dem Surren des Roboters war nichts zu hören. Trotzdem wagte er erst nach einer ganzen Weile, sich aus seiner verkrampften Haltung zu lösen.
“Ruhig jetzt”, ermahnte sich Alex selbst. “Konzentriere dich endlich! Immer einen Schritt voraus sein.”
Alex öffnete das Armband seines Payers und zog ein Werkzeug aus seiner Aktentasche, das einem Schraubenzieher ähnelte. Vorsichtig begann er unter dem Display herumzustochern. Das würde jetzt wehtun.
Ein leises Klicken zeigte ihm, dass er Erfolg hatte. Mit einem unterdrückten Ächzen zog Alex den Payer von seinem Handgelenk. Die Nadel, die aus der Unterseite seines Displays herausragte, hinterließ eine klaffende Wunde in seinem Fleisch. Er hatte fast vergessen, wie scheußlich diese Prozedur war.
Eine Fehlermeldung erschien in dicken roten Buchstaben auf Alex’ Kontaktlinse: “Achtung! Verbindung verloren!” Der Chip in seinem Nacken gab ein leises Warnsignal von sich. Es würde nicht lange so leise bleiben. Alex musste jetzt schnell sein.
Er desinfizierte sein Handgelenk und die Nadel des Payers, dann packte er das Gerät weg. Rasch zog er eine Schachtel mit einem zweiten Payer aus seiner Aktentasche. Dieser sah ungleich älter aus, das Display hatte einen kleinen Sprung, die Nadel wirkte dicker als die vorherige.
Mit einem Seufzen platzierte Alex den älteren Payer über seinem Handgelenk, schloss die Augen und biss die Zähne zusammen. Dann ließ er seine Faust auf das Display fahren. Er stöhnte, als die Nadel in seine Wunde drang. Das Warnsignal in seinem Nacken verstummte, seine Kontaktlinsen rebooteten sich. Hastig tippte Alex ein paar Codes ein.
“Reboot abgeschlossen. Willkommen zurück, Mister Simons. Ihre Bonuspunkte sind fast aufgebraucht. Bitte denken Sie daran, dass Sie als Gesellschaftsmitglied der Klasse VI die obere Ebene bald verlassen müssen.”
Auch das noch! Gönnte ihm denn niemand einen Moment der Ruhe?
Hastig sprühte Alex Wundschaum unter das Display und schloss das Armband. Er zog einen verschlissenen Mantel hervor und warf ihn sich über. Der sollte für den Anfang reichen. Dann griff er nach dem Rasierapparat.
Der Reinigungsroboter machte sich sofort über die Reste seiner Haare her, als er die Toilette verließ. Die Dame im Flur erkannte ihn nicht wieder, sie swipte ihm sogar fünf ihrer Sozialpunkte als Trinkgeld zu, als Alex artig bezahlte. Ein guter Anfang, Mister Simons konnte die Bonuspunkte gut gebrauchen.
Auf dem Weg zur Schleuse wurde Alex von einer bunten Flut aus Werbebannern erschlagen. Die Holosäulen waren jetzt übersät mit sich bewegenden Schriftzügen und Bildern, eine Anzeige erschien sogar am Rande seiner Kontaktlinse:
“GetGo-Sandwiches! In der neuen, nachhaltigen Verpackung ohne Mindesthaltbarkeitsdatum! Ab sofort haltbar, solange Sie wollen! Legen Sie sich noch heute einen Vorrat an, mit den neu verpackten Sandwiches von GetGo! Mengenrabatt nur für kurze Zeit!”
Alex hatte ganz vergessen, dass man als Gesellschaftsmitglied der Klasse VI noch Werbung ertragen musste. Auf dem Payer von Mister Simons waren leider nicht genug Bonuspunkte für einen Adblocker, sonst hätte Alex ihn sofort aktiviert.
Diesmal konnte er das Drehkreuz ohne Beanstandung passieren. Der Payer bedankte sich nur für den Besuch auf der oberen Ebene und rechnete Mister Simons vor, wie viele Bonuspunkte ihn sein Aufenthalt in der Welt der Erfolgreichen gekostet hatte.
Alex strich sich über die frische Glatze, als er auf der Rolltreppe hinunter zur unteren Ebene glitt. Es war, als würde er in eine völlig neue Welt eintauchen. Alles hier unten wirkte chaotisch, dreckig, roh und laut.
Backsteinbauten wechselten sich mit grauen Hauswänden ab, Architekturstile folgten ohne ersichtliche Reihenfolge aufeinander. In den Gassen standen windschiefe Holzbauten und gammlige Pappkartons herum. Überall lag Müll.
Auf den Straßen fuhren heruntergekommene Elektroautos, Verkehrsregeln schienen hier weit weniger Bedeutung zu haben als oben. Bunt gemischte Passanten, viele in abgetragener Kleidung, drängelten sich ungeordnet über die düsteren Wege. Die obere Ebene ließ nur wenig Tageslicht nach unten durch.
Am auffälligsten aber war der Gestank. Eine schwüle Front schlug Alex ins Gesicht und drohte, ihn zu überwältigen. Es roch nach Dreck und Urin, nach Schweiß und nach verwesenden Abfällen.
Noch bevor er die zweite Schleuse am Fuße der Rolltreppe erreichte, hatte Alex fünfzig Bonuspunkte für einen Filter bezahlt. Die Rezeptoren seiner Nase empfingen jetzt nur noch den Geruch der Röstzwiebeln eines veganen Hotdog-Stands an der Ecke. Das war es ihm immer wieder wert!
Alex durchquerte die zweite Schleuse und blieb unschlüssig am Straßenrand stehen. Wohin jetzt? In sein altes Versteck? Eine neue Arbeit für Mister Simons suchen? Oder doch lieber zuerst eine Möglichkeit ausfindig machen, um schnell an Bonuspunkte zu gelangen?
Ein Auto knatterte um die Ecke, Alex bemerkte es sofort. Fuhr das etwa noch mit Benzin? Eine ungute Vorahnung stieg in ihm auf.
Seine Paranoia wuchs, als er rechts und links von sich zwei Gestalten in Anzügen sah, die sich ihren Weg durch die Menge bahnten. Alex drehte sich um. Auf der Rolltreppe schwebte ein kleiner Mann nach unten, er behielt Alex genau im Blick.
Das Auto kam mit quietschenden Reifen vor ihm zum Stehen. Ein glatzköpfiger Riese schälte sich vom Fahrersitz und kam um das museumsreife Fahrzeug herum. Der Muskelberg öffnete die Hintertür und wies mit einer eindeutigen Handbewegung auf die Rückbank. Alex jedoch blieb wie angewurzelt stehen. Wer zum Teufel waren diese Leute?
Das Fenster des Beifahrersitzes wurde heruntergelassen. Alex erkannte die Hälfte eines Gesichts mit kräftigem Unterkiefer, der Rest wurde von einem breiten Hut verdeckt.
“Bitte, steigen Sie doch ein. An Ihrer Stelle würde ich nicht allzu lange zögern. Ich glaube nicht, dass die Agenten der Behörden ebenso freundlich sein werden.”
Die Gestalten zu beiden Seiten sahen sich hektisch um. Der Muskelberg versperrte ihnen für den Moment die Sicht.
Alex blieb keine Wahl. Er hechtete auf die Rückbank. Der Riese folgte ihm und schloss die Tür. Er musste den Kopf einziehen, um ins Auto zu passen, seine schiere Präsenz lähmte Alex für den Moment. Warum fuhren sie nicht los?
Alex fiel auf, dass das Auto gar keine Kontaktstelle für einen Payer hatte, die Kameras in den Ecken fehlten ebenfalls. Gab es überhaupt noch Autos in Privatbesitz?
“Verzeihen Sie die Umstände”, eröffnete der Hut von vorne. “Ich habe mir unser erstes Treffen schöner vorgestellt, aber Sie haben es uns wahrhaft nicht leicht gemacht. Umso glücklicher bin ich jetzt, dass wir endlich das Vergnügen haben. Halten Sie doch bitte für einen kurzen Moment den Kopf unten, bis wir ihre Schatten losgeworden sind.”
Die beiden Agenten trafen sich vor dem Auto und sahen sich verwirrt um. Einer warf sogar einen Blick hinein. Der Muskelberg winkte ihm freundlich zu. Einen irritierten Moment hielt der Agent inne, dann stoben die beiden Gestalten wieder auseinander.
Die Fahrertür öffnete sich, Alex schnappte nach Luft. Der Zwerg kletterte auf den Fahrersitz, stellte ihn ein ganzes Stück höher und startete den Motor. Langsam rollten sie hinaus auf die Straße.
Alex war überwältigt von den sich überschlagenden Ereignissen. So unauffällig wie möglich versuchte er, sich Informationen über seine drei Begleiter anzeigen zu lassen. Doch auf seiner Kontaktlinse erschienen keine Namen, keine Infos, keine letzten Posts auf den sozialen Netzwerken, nichts. Wenn Alex einen der drei fixierte, erschien nur ein leeres Datenblatt neben dem jeweiligen Kopf.
“Da Sie leider keine Infos über uns abrufen können”, ertappte ihn der Mann auf dem Beifahrersitz, “erlauben Sie mir doch, uns vorzustellen. Unser Fahrer hier heißt Athos, der Herr an Ihrer Seite nennt sich Porthos und bei meiner Wenigkeit handelt es sich um d’Artagnan.”
Der Mann griff sich an den Hut und lächelte charmant, seinen Körper hielt er höflich nach hinten gedreht. “Sie werden schnell erkennen, dass das nicht unsere richtigen Namen sind. Bitte verzeihen Sie, dass wir uns absichern müssen. Und mit wem haben wir das Vergnügen? Ich bin leider ein wenig durcheinander. Soll ich Sie Mister Simons nennen? Oder doch lieber Mister Harper?”
Was ging hier vor sich? Wie waren diese Kerle ihm auf die Schliche gekommen? Alex musste hier raus, so schnell wie möglich.
“Ich entschuldige mich schon jetzt für das Verhalten, das gleich notwendig sein wird. Aber wir müssen sicher gehen, dass wir die richtige Person vor den Behörden gerettet haben.”
Der Mann, der sich d’Artagnan nannte, nickte dem Muskelberg zu. Der griff nach Alex Hemd und riss es mit einem einzigen Ruck auf, Alex hatte gar nicht die Chance, sich zu wehren.
Unter Alex’ Kleidung kamen abgebundene Brüste zum Vorschein. Sie war aufgeflogen.
“Sie wissen wirklich, wie man eine Existenz stiehlt”, nickte d’Artagnan zufrieden. “Und Sie beherrschen die Kunst der Tarnung. Besonders wichtig ist – wie Sie offensichtlich bereits wissen – die Frisur. Aber dazu noch das Geschlecht zu wechseln, Chapeau! Aus Ihnen wäre eine gute Spionin geworden! Leider haben Sie einen entscheidenden Fehler begangen: Sie hätten Ihren Vornamen nicht behalten sollen, Alexandra.”
Kalter Schweiß sammelte sich in Alex’ Nacken. Diese Bande wusste alles. Sie fühlte sich hilflos ausgeliefert.
“Wenn Sie mich anfassen, schneide ich Ihnen die Eier ab.”
“Davon bin ich überzeugt.” Der Mann auf dem Beifahrersitz sagte das vollkommen ernst. “Aber ich verspreche Ihnen, das wird nicht nötig sein. Lassen Sie Ihr Messer lieber in Ihrem Stiefel. Porthos kann Waffen nicht ausstehen.”
Der Riese drehte den Kopf und lächelte Alex sanft zu. Er bot seine Hilfe an, aber Alex bedeckte sich lieber selbst mit den Resten ihres Hemdes.
“Was wollen Sie von mir?”
“Die Frage sollte eher lauten, was wollen wir von der Welt da draußen?” D’Artagnan wandte den Blick nachdenklich aus dem Fenster. “Es klang nach einer klugen Idee damals. Jedem Menschen dieselbe Anzahl an Limitpunkten pro Monat zuzuteilen. Eine faire Lösung, sonst hätten wir die Klimakatastrophe und die Ressourcenknappheit wohl nie überstanden. Aber um welchen Preis?
Menschen, die nach jedem Bonuspunkt lechzen, um sich ein wenig von dem alten Luxus zu gönnen. Alkohol, einen Frappuccino, eine Reise ans Meer.
Und über allem schwebt der Traum des Klassenaufstiegs! Mehr Privilegien, mehr Limitpunkte, mehr Luxus. Und für alle zum Greifen nah, haben sie uns gesagt. Mit Schweiß, harter Arbeit und Verzicht könne man genug Bonuspunkte sammeln, hieß es. Ich sehe Menschen, die vom Traum des Klassenaufstiegs geblendet wurden. Sagen Sie mir, was sehen Sie?”
Alex blickte hinaus. Zu den Menschen, die ihre Rolle erfüllten, um jeden Monat ihre Limitpunkte zu bekommen. Die ein falsches Lächeln aufsetzten, um ein paar Bonuspunkte zu ergattern, um sich wenigstens ein bisschen Luxus gönnen zu können.
“Ich sehe eine Gesellschaft, die nur noch für andere lebt.”
D’Artagnan nickte. “Wussten Sie, dass unser Athos hier ehrenamtlich beim Tierheim arbeitet? Er tut es, weil er Hunde liebt. Seine Kollegen tun es, weil sie Bonuspunkte wollen.”
“Benzin ist fast alle, Boss.” Der kleinwüchsige Athos hatte sich zum ersten Mal zu Wort gemeldet.
“In Ordnung. Und wie oft soll ich dir noch sagen, dass du mich nicht Boss nennen sollst?”
“Sorry, Chef.”
D’Artagnan seufzte. Sie kamen neben einem zwielichtigen Schuppen zum Stehen. Ein junger Mann kroch daraus hervor, nickte ihnen zu und sah sich unauffällig um. Dann zog er einen Benzinkanister aus einem Versteck und begann, ihn in den Tank des Autos zu leeren. D’Artagnan swipte ihm einen großzügigen Betrag seiner Sozialpunkte zu.
“Sehen Sie sich diese arme Seele an. Er träumt auch vom Klassenaufstieg, wie eigentlich alle hier unten. Wenn er viele Jahre hart arbeitet, im illegalen Sektor wohlgemerkt, schafft er es vielleicht in die Klasse V. Und dann? Wenn er so weitermacht, sieht er kurz vor Ende seines Lebens die obere Ebene. Wissen Sie, wie viele Menschen in den letzten zehn Jahren in die Klasse I aufgestiegen sind?”
Alex hatte keine Ahnung.
“Kein Einziger. Natürlich bekommen wir hier unten nichts davon mit. Ein paar wenige Auserwählte schaffen es alle Jahre wieder in die Klasse III. Tja”, d’Artagnan seufzte erneut, “ab und zu muss das Casino Gewinne ausschütten, damit das Volk weiterspielt.
Aber wissen Sie, was das Perfideste an unserer Gesellschaft ist? Die da oben müssen rein gar nichts mehr tun, um den Status Quo zu wahren! Die Masse hält sich mittlerweile brav selbst in Schach. Die Einführung der Sozialpunkte war ein genialer Einfall, das muss ich denen da oben lassen. Sei immer nett und freundlich, und du verdienst dir ein paar Bonuspunkte extra für den Klassenaufstieg. Aber ein kleiner Fehltritt, und du wirst um Monate zurückgeworfen. Die Menschen sind missgünstig, Alexandra, es gibt immer etwas, wofür man den Nachbarn ankreiden kann.”
Das war ja alles schön und gut. Alex fand das System auch beschissen, nicht ohne Grund hatte sie beschlossen, nicht mehr nach den Spielregeln zu spielen. Mit dem richtigen Payer konnte sie so einiges anstellen, aber das System an sich war einfach nicht zu knacken. Alex verstand immer noch nicht, was sie hier zu suchen hatte. “Sie scheinen edle Ziele zu verfolgen. Edle, unmöglich zu erreichende Ziele.”
“Machen Sie sich mal keine Sorgen, ich versichere Ihnen, wir haben einen Weg gefunden und alle nötigen Vorbereitungen getroffen. Was glauben Sie würde passieren, wenn der Wert eines Limitpunktes von 1 auf 0 fallen würde?”
“Dann würde die gesamte Gesellschaft in absolutem Chaos versinken. Ich glaube nicht, dass ich dabei behilflich sein kann. Oder – dass ich das überhaupt möchte.”
“Oh nein. Ich sage Ihnen, was Sie nicht möchten.” D’Artagnan lächelte immer noch freundlich. “Sie möchten nicht, dass Ihre gesamten Identitäten an die Behörden weitergeleitet werden.
Um das System kümmern sich sowieso die anderen Mitglieder unserer edlen Organisation. Aber es wäre doch schade, wenn die Bewegung nicht auch ein wenig für ihre Mühen belohnt werden würde, meinen Sie nicht auch? Betrachten Sie das Ganze als Chance, Alexandra. Wir brauchen für einen klitzekleinen Nebenjob noch eine Aramis in unserer Truppe. Eine Aramis wie Sie, Alexandra.”
—
Alex wälzte sich in ihrem Bett. Mitternacht war lange vorbei, ihr Payer hatte schon bestätigt, dass ihre Limit-und Sozialpunkte für den nächsten Monat wieder aufgefüllt worden waren. Sie hatte ihre restlichen Limitpunkte des Vormonats in Bonuspunkte umrechnen lassen, leider war nur ein minimaler Betrag dabei herausgekommen.
D’Artagnans Angebot war eigentlich viel zu verlockend, um es auszuschlagen. Vielleicht war das endlich ihr Ticket in die Freiheit. Und nicht nur in ihre Freiheit, es ging hier um die gesamte Gesellschaft! Das war Wahnsinn! Und außerdem hochgefährlich.
Das monatliche Update war der einzig mögliche Zugriff auf das System, das hatten ihre neuen “Freunde” richtig erkannt. Und auch sonst schien die merkwürdige Truppe gut informiert zu sein. Selbst im Rahmen des Updates ließen sich nämlich nur wenige Parameter ändern, was den Plan so genial machte. Er nutzte eine winzige Lücke, die eigentlich gar keine war. Man musste nur verrückt genug sein, sie auszunutzen.
Die Konsequenzen wären im wahrsten Sinne des Wortes systemsprengend, aber Alex war sich nicht sicher, ob die Truppe wirklich alle Folgen vorhergesagt hatte. Das behielt sie aber für sich. Wenn sie schon in diese Sache hineingezwungen wurde, dann wollte sie auch am meisten davon profitieren.
—
Nach Monaten der Vorbereitung hielten sie endlich auf dem Besucherparkplatz, genau vor dem Haupteingang des Hochsicherheitsgebäudes. Alex kratzte sich am Kopf, die Perücke juckte noch ein wenig. Es war ungewohnt, wieder als Frau in die Öffentlichkeit zu treten. Ihr neuer Payer wies sie als Journalistin Camilla Davis aus.
“Denkt daran, das Update startet genau um 12 Uhr”, ermahnte d’Artagnan seine Truppe.
Sie zogen ihre Taschen und Rucksäcke aus dem Kofferraum. Porthos übernahm das schwere Gepäck. Zu viert betraten sie das granitene Gebäude, die Eingangshalle war kaum mehr als ein Flur. Das also war Fort Knox.
Ein paar Gäste bildeten schon eine Schlange vor einem nervösen Wachmann. Der Angestellte schien nicht richtig bei der Sache zu sein.
D’Artagnan registrierte sich mit seinem Payer und kam ohne Probleme durch die Sicherheitsschleuse. In seiner Tasche war nichts Verdächtiges zu finden, wie geplant.
Doch als Alex die Schleuse durchschritt, piepte der Detektor warnend auf.
“Verzeihung, Miss Davis, ich muss Sie kurz abtasten.” Der Wachmann nahm Alex beiseite, doch schon nach wenigen Sekunden schrie sie auf: “Haben Sie mir gerade an die Brüste gefasst?!”
“Nein, Miss Davis”, der Wachmann wurde noch nervöser, als er ohnehin schon war. “Ich versichere Ihnen, ich mache hier nur meinen Job…”
“Sie haben Ihre Position eindeutig ausgenutzt, um mich sexuell zu belästigen! Ich werde eine Klage gegen Sie einreichen müssen!”
Porthos hinter ihr nickte eifrig auf den Wachmann herunter. Athos schob währenddessen heimlich ein paar Taschen an der Schleuse vorbei, die d’Artagnan unauffällig entgegennahm.
Alex wischte hastig über ihren Payer. Auf ihrer Kontaktlinse erschienen Informationen zu William, dem Wachmann.
“Wie ich hier sehe, haben Sie schon zwei Klagen wegen Belästigung am Hals!” Alex tat erstaunt. Ihre Komplizen hatten gute Vorarbeit geleistet. Der Wachmann war ein nervliches Wrack.
“Bitte, nein! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie lange ich auf diese Klasse hingearbeitet habe!”
Alex tat, als würde sie sich die Sache überlegen, bis Athos seine Arbeit beendet hatte.
“Wissen Sie was, da Sie sonst absteigen würden, lasse ich es diesmal dabei bewenden, William. Aber nur dieses eine Mal!”
“Ich danke Ihnen vielmals, Miss Davis!” Der Wachmann swipte ihr schleunigst eine gewaltige Menge seiner Sozialpunkte zu, dann bat er sie mit einem breiten Lächeln herein.
“Willkommen”, begrüßte eine Museumsführerin die eintrudelnden Gäste, “im ehemals sichersten Tresor der Welt! Wer kann mir sagen, was hier hauptsächlich gelagert wurde?”
“GetGo-Sandwiches?”, scherzte einer der Touristen.
“Keine schlechte Idee.” Die Museumsangestellte ließ sich nicht aus der Bahn werfen. “Aber es handelt sich um Gold! Heute kann man kaum noch glauben, dass das glänzende Erz einmal zu den wertvollsten Rohstoffen der Welt zählte. Noch vor wenigen Jahrzehnten war das Edelmetall eine beliebte Geldanlage! Aber bevor ich hier groß Geschichten erzähle, schauen Sie sich doch in unserem Museum um, wo meine Kolleginnen und Kollegen Sie gerne empfangen. Bitte bleiben Sie im Besucherbereich, die Sicherheitssysteme wurden zwar seit mehr als hundert Jahren nicht mehr aktualisiert, aber sie sind immer noch scharf! Es wäre doch schade, wenn unsere glänzende Hauptattraktion aus dem Keller verschwinden würde!”
Ein Raunen ging durch die Menge.
“Die Führungen für Touristen beginnen heute Nachmittag. Die Journalisten, die für den exklusiven ersten Einblick ausgewählt wurden, folgen mir bitte.”
Alex schnappte sich die Tasche, die Athos ihr unauffällig hinhielt, und schloss sich der Reportergruppe an, die in den Aufzug strömte. Eine Benachrichtigung ploppte auf Alex’ Kontaktlinse auf:
“Ein Backgroundcheck wurde durchgeführt. Willkommen in Fort Knox, Miss Davis.” Gut. Die gestohlene Identität erfüllte ihren Job.
“Wie Sie alle wissen, unterliegt Fort Knox seit dem heutigen Tag nicht mehr dem Staatsgeheimnis”, erklärte die Führerin fröhlich, während der alte Fahrstuhl in die Tiefe rauschte. “Es freut uns deshalb, Ihnen einen ersten Einblick in das Heiligtum unserer Einrichtung zu geben.”
Sie kamen an einer meterdicken Tresortür an, die weit offenstand.
“Normalerweise braucht es drei Personen gleichzeitig, um hier verschiedene Codes einzugeben, aber heute ist ja so etwas wie der Tag der offenen Tür.”
Die Mitarbeiterin lachte über ihren eigenen Witz, während sie die staunenden Reporter in den unterirdischen Tresor führte.
“Wie Sie sehen, ist jede der drei mal drei Meter großen Zellen noch einmal extra abgeschlossen und versiegelt. Bitte seien Sie hier besonders vorsichtig, weiter hinten haben wir schon eine Kammer für Sie geöffnet.”
Alex hob die Hand. “Was würde passieren, wenn man ein Siegel bricht?”
“Dann würde der gesamte Tresor für 72 Stunden verriegelt werden.”
Alex sah auf die Uhr. 12 Uhr Mittag. “Sehr gut.”
Sie brach eines der Siegel, ein Alarm ertönte und die schwere Stahltür klappte hinter ihnen zu.
“Die Nottunnel zum Bunker für Mitarbeiter befinden sich dort entlang.” Alex deutete den Gang hinunter und zog sich ihre Gasmaske über. “Sie haben dreißig Sekunden.”
Die Gruppe starrte Alex wie vom Donner gerührt an. Die Mitarbeiterin war die Erste, die rannte. Vierundzwanzig Sekunden später strömte Gas aus der Decke. Alex zog eine Sprengladung hervor und pulverisierte damit das Notverriegelungssystem, die 72-Stunden-Blockade war damit Geschichte. Nur wenige Sekunden später schwang die Tresortür wieder auf.
“Wie schön, dass wir erneut vereint sind”, grüßte d’Artagnan.
“Wie schön, dass die Codes funktioniert haben”, freute sich Porthos.
“Wie schön, dass ich fast nicht an das Eingabefeld herangekommen bin”, bemerkte Athos.
“Macht die Seegleiter bereit. Vierzig Sekunden.”
Sie hatten gerade die torpedoförmigen Gleiter hervorgezogen, da wurden die Gänge mit Wasser geflutet.
“Die wollen ja, dass man sie ausraubt”, kommentierte Athos, als sie durch den Fahrstuhlschacht nach oben schwammen. Die Funkverbindung ihrer Masken funktionierte ausgezeichnet. “Der Fahrstuhl fährt nicht mehr, stattdessen füllen sie den Schacht mit Wasser, damit wir nicht so schwer schleppen müssen!”
Sie hatten so viele Goldbarren wie möglich in Netze verladen und zogen sie jetzt an den Gleitern hinter sich her. An der Wasseroberfläche angekommen, konnten sie die Masken abnehmen. Der Flur vor dem Fahrstuhlschacht lag verlassen da. Porthos war schon dabei, die Goldbarren auf Hoverboards umzuschichten.
Zu viert schritten sie durch das evakuierte Gebäude, jedem von ihnen folgte ein schwer beladenes Hoverboard. Kaum zu glauben, dass man mit einer einzigen Ladung von diesen Goldbarren früher ganze Inseln kaufen konnte.
“Halt!” Der Wachmann stand zitternd in der Eingangstür und richtete sein Gewehr auf die Truppe.
“William, ich würde mir überlegen, ob ich für meinen Arbeitgeber töten würde”, eröffnete d’Artagnan. “Vor allem, wenn mein Arbeitgeber mich nicht mehr bezahlen kann.”
“Was?” Der Wachmann verstand nur Bahnhof. Porthos schritt zielstrebig auf ihn zu, riss ihm das Gewehr aus der Hand und trug ihn mühelos zum nächsten Getränkeautomaten, wo er den Payer des Wachmannes an die Kontaktstelle drückte.
“Verbleibende Limitpunkte: 634. Wert eines Limitpunktes nach dem Update: null. Fehler. Bitte laden Sie Ihre Limitpunkte auf!”
Ihre Komplizen hatten es geschafft, Limitpunkte waren nichts mehr wert. Zu fünft verließen sie das Gebäude und blickten andächtig zur Militärbasis hinüber, von der im Sekundentakt Quadrokopter aufstiegen. Keiner von ihnen machte sich die Mühe, Fort Knox anzusteuern. Stattdessen eilten sie in Richtung Stadt, wo schon erste Rauchsäulen aufstiegen.
“Nehmen Sie das und gehen Sie nach Hause, William.” D’Artagnan steckte dem Wachmann einen Goldbarren zu. “Ihre Familie braucht Sie jetzt.”
“Darf ich?”, fragte Athos, als sie dem Wachmann hinterherblickten, der über den Parkplatz davonschwankte.
“Ja”, nickte d’Artagnan. “Wir gehen hinten rum.”
Athos freute sich sichtlich, den Minenhund über das Gelände führen zu dürfen. Die angrenzenden Zäune knackte Porthos mit Leichtigkeit. Die Selbstschussanlagen auf den Türmen blinkten entwarnend grün, als die ihre Payer gescannt hatten.
Auf den Gleisen stand eine alte Lok aus einem Museum bereit. Mehrere Organisationsmitglieder sprangen von dem Güterzug und trabten mit Hoverboards und Taucherausrüstung bewaffnet los in Richtung Fort Knox. Es würde einige Zeit dauern, bis sie alle Zellen geleert hatten. Alex sah hinüber zur Stadt, wo das Chaos mittlerweile perfekt war. Sie hatten Zeit.
—
Alex betrat die Veranda vor der ehemaligen Farm ihrer Eltern. Die Luft roch herrlich frisch, aus der fernen Stadt stiegen nur noch vereinzelte Rauchsäulen auf.
Am Waldesrand regte sich etwas. Ein Zwerg und ein Riese zogen die staubige Straße entlang zu ihr herauf.
“Hast du vielleicht was zu essen für uns?”, fragte Athos schüchtern.
“Wir zahlen auch.” Porthos zog verlegen lächelnd einen Goldbarren hervor.
“Sind noch nicht so wertvoll geworden, wie ihr dachtet, was?” Alex grinste verschmitzt. “Ich mache euch beiden einen Vorschlag: Ihr helft mir im Gemüsebeet, dafür bekommt ihr einen Wasseraufbereiter und zwei Rationen am Tag.”
“Drei”, beharrte Athos: “Und wir dürfen in der Scheune schlafen.”
“Abgemacht! Her mit dem Ding, dann sehe ich mal nach, was ich für euch habe.”
Athos warf ihr den Goldbarren zu und sie machte sich auf den Weg ins Haus. Alex entriegelte die schwere Kellertür und stieg die Treppe hinunter.
Unten angekommen brummte das Notstromaggregat auf. Licht flackerte über die Regalreihen vor ihr. Sie waren über und über mit GetGo-Sandwiches beladen, außerdem mit Batterien, Wasseraufbereitern, Saatgut, Medikamenten… Alex hatte sich gut vorbereitet.
Lächelnd legte sie den Goldbarren zu den anderen, seine Zeit würde kommen.
Nachdenklich rieb sie ihr Handgelenk, sie war es immer noch nicht gewohnt, keinen Payer zu tragen. Er fehlte ihr wie eine verlorene Gliedmaße. Konnte man bei Implantaten von Phantomschmerzen sprechen?
Alex schnappte sich ein paar Sandwiches und einen Sack voll Saatgut. Die alte Gesellschaft war zusammengebrochen. Zeit, eine neue zu errichten.