Die versteckte Geschichte

Die folgende Geschichte aus dem Magic Future MoneyWettbewerb hat es leider nicht unter die 30 Geschichten geschafft, die die Jury als Gewinner ausgewählt hat. Sie ist aber dennoch so gut, dass es sich lohnt, sie zu lesen.


Sheilas Geld

Text und Illustrationen: raised_by_memes

Als ich das erste Mal in Indien war, war ich 14 Jahre alt. Es war das Jahr 1995. Ich war großer Fan der Star Trek-Serie The Next Generation, die damals noch im Fernsehen lief. Und ich kam mir vor wie der junge, unerfahrene Wesley Crusher vom Raumschiff Enterprise, der zum ersten Mal auf einen fremden Planeten beamen darf, um einer fremden Kultur zu begegnen. Die ersten Eindrücke, die ich damals von der Reise hatte, sind immer noch da. Die dicke, stinkige Luft, der quäkende Lärm, das Chaos und vor allem das Gefühl, wirklich auf einem anderen Planeten gelandet zu sein. Dem Heimatplaneten meiner Mutter.

Es war für mich aufregend und überfordernd zugleich, das was ich da sah, einzuordnen und zu verarbeiten. Wesley Crusher hätte wohl einfach seinen Tricorder geöffnet, der ihm all die fremden Dinge erklärt hätte. Ich hatte allerdings nur meine Mutter, die selber damit überfordert war nach so vielen Jahren wieder hier gelandet zu sein.

Wir landeten damals im Süden Indiens im Bundestaat Kerala, und unsere erste Station war ein Krankenhaus, das mein Großonkel leitete. Er war kein Mediziner, sondern ein Pfarrer, der mit deutschen Spenden, eine eher notdürftige Klinik für Leprakranke errichtet hatte. Wir kamen in der Nacht an und mussten in einem kleinen Hinterhaus des Krankhauses übernachten. Doch die erste Nacht wurde durch riesige Kakerlaken unter dem Bett und gigantische Flughunde, die an den Palmen vor dem Haus hingen, zu einem außerirdischen Alptraum. Wo war ich bloß gelandet? Und auch am nächsten Tag als uns der Onkel durch das Krankenhaus führte, war mein Hirn noch immer damit beschäftigt zwischen Alptraum und Realität zu vermitteln. Denn wir wurden nach dem Frühstück durch eine große Halle mit Betten geführt, welche provisorisch mit schwarzen Plastikfolien bedeckt waren. Auf den Folien saßen oder lagen alte indische Männer und Frauen, deren Gliedmaßen teilweise amputiert oder mit schwarzen Flecken bedeckt waren. Ihre teilweise offenen Wunden suppten auf die Folien. Ihre Gesichter blickten uns stumm entgegen, aber die Erinnerung schreit mich auch heute noch an. Es war wie eine Pest-Szene aus dem Mittelalter. Nur ich stand mittendrin. Wie ein Zeitreisender.

Meine Mutter war die älteste von drei Schwestern. Sie wuchs in Maneera auf, einem kleinen Dorf, das auf einem Hügel mitten im indischen Dschungel, vier Stunden entfernt von der nächsten größeren Stadt lag. Ihre älteste Kindheitserinnerung ist die, wie sie in einem großen Baumhaus spielte, das die Familie vor Tigern und wilden Elefanten schützen sollte. Ihre Kindheit war geprägt durch die Natur: Kilometerlange Schulwege, echte Gefahren durch wilde Tiere, kein fließendes Wasser, Kein Herd, kein Telefon. Ein hartes Leben ohne den Luxus moderner Technologie.

Das sollte sich für sie jedoch ändern, da sie als älteste Tochter zur Ausbildung nach Europa geschickt wurde. Und genau wie Ihre mittlere Schwester, die zur Ausbildung ihren Weg nach Amerika fand, hatte meine Mutter auch tatsächlich ein besseres Leben und eine Zukunft in ihrer neuen Heimat Deutschland gefunden.

Ihre jüngste Schwester Sheila, jedoch wurde verheiratet und musste im Dorf zurückbleiben. Sheila hatte nicht nur das Pech an einen alkoholkranken Mann verheiratet zu werden, sondern ihr Lebensstandard verbesserte sich selbst nach 30 Jahren kaum.

Vom Krankenhaus war es eine Vier-Stunden-Fahrt in das Heimatdorf meiner Mutter. Die Straßen waren holprig, der Fahrer wahnsinnig, und der alte Hindustan Ambassador stank nach Viehtransport. Aber das Wiedersehen meiner Mutter und ihrer kleinen Schwester nach so vielen Jahren war alle Beschwerlichkeiten wert gewesen.

Sheila wohnte mit ihrer Familie in einem sehr kleinen Ziegelstein-Haus, auf einer Anhöhe des Dorfes. Das Haus hatte ein Wohnzimmer, das gleichzeitig Schlafzimmer für die vierköpfige Familie war. Es gab ein Plumpsklo neben dem Haus und eine Küche mit einfacher Feuerstelle. In dem Haus gab es allerdings nur eine einzige Glühbirne, die provisorisch von der Decke baumelte, und Licht für den gesamten Wohnbereich spendete. Es war wirklich nicht viel, das sie hatten, und in Indien gibt es immer noch ärmere Menschen, aber es war nicht vergleichbar mit dem Standard, mit dem wir in Deutschland lebten. Wir sollten deshalb bei entfernteren Verwandten übernachten, die ein etwas größeres Haus hatten.

Ich merkte wie dicht das soziale Netz in Indien war, wo die Großfamilie bis heute immer auch als soziales Sicherungssystem funktioniert. Man kümmert sich und hilft sich gegenseitig bei kleineren Angelegenheiten. Man profitiert aber auch davon, wenn einer in der Familie mehr Platz oder ein größeres Haus hat. Das meiste wird geteilt und das war auch Sheilas Los. Sie hatte kaum etwas, das wirklich ihr selbst gehörte. Das wenige das da war, hatte sie immer abgegeben. An die Großfamilie, an die Kinder und an den Mann.

Ihr großzügiges Wesen und ihre Gastfreundlichkeit hatte mich sehr berührt. Wir waren zwar verwandt, aber ein so aufopferungsvolles Verhalten, wie von Sheila kannte ich aus Deutschland nicht. Sie war eine wirklich liebenswerte Frau, die ein besseres Leben verdient hatte.

Als wir nach 4 Wochen wieder abreisten mussten, gab meine Mutter Sheilas Mann ein großes Bündel Geld in die Hand. Ihr Ehemann hatte es so von meiner Mutter erwartet. Sie galt nun mal als die wohlhabende Schwester aus Deutschland, und auf sie hatte er jetzt gezählt. Das Geld meiner Mutter, dass sie als einfache Pflegekraft verdiente, war zwar sehr wenig gewesen, aber es konnte dennoch eine große Hilfe sein.

Doch ich sah, wie schwer es meiner Mutter fiel, dieses Geld zu überreichen. Denn sie wusste, dass Sheilas Mann, der mit großen Augen auf das Bündel Rupees starrte, es sogleich einstecken und später verspielen oder versaufen würde. Es blieb nichts für Sheila übrig, ich sah es in ihren dankbaren aber verzweifelten Augen. Ihr Mann hatte Macht über sie, und das wusste meine Mutter. Sheila war ihm schicksalhaft ausgeliefert, wie so viele indische Ehefrauen, deren Männer von der Familie ausgesucht werden, und in deren Möglichkeitsraum es eine Scheidung oder Trennung nicht gibt.

Darum fiel es meiner Mutter damals so schwer, ihr das Geld zu überreichen. Sie hätte gerne ihrer Schwester mit dem Geld geholfen, aber sie wusste so etwas wie Eigentum gab es für Sheila nicht und ihr Geldgeschenk würde irgendwo versickern.

Wäre ich wirklich Wesley Crusher gewesen, ich hätte uns zurück in die Zukunft gebeamed, und Sheila gleich mitgenommen. Oder ich hätte ihr irgendeine Technologie in die Hand gegeben, die Ihre Probleme hätten lösen können. Aber diese Technologie gab es damals noch nicht.

Einige Jahre später fuhren wir wieder in das Dorf, diesmal in einem neueren Auto, einem japanischen Fabrikat mit Klimaanlage. Die Straßen waren nun betoniert, Die Landschaft hatte sich verändert, es waren viele neue Bauten entstanden. Der Wohlstand kam ins Land, und Indien veränderte sich mit riesigen Schritten. Die Farben des alten Indien verblassten und machten Platz für ausländische Werbebanner, aber auch für Technologie und Fortschritt. Auch das Krankenhaus meines Onkels gab es nun nicht mehr, die Lepra war in der Gegend besiegt worden. Die Gesundheitsversorgung hatte sich sehr verbessert und die Infrastruktur Projekte der Regierung gingen auf. Der Aufschwung war da.

Die ersten Familienmitglieder hatten schon Desktop-PCs im Wohnzimmer stehen und manche hatten sogar die ersten Mobiltelefone zum Ausklappen. Doch in Sheilas Haus baumelte noch immer die einsame Glühbirne von der Decke. Die Wände waren feucht und die Küche hatte noch immer keinen Herd. Für meine Mutter war das nur schwer zu ertragen, denn fast allen anderen Familienmitgliedern im Dorf ging es deutlich besser als ihrer kleinen Schwester. Die Wut auf Sheilas Mann, der es trotz Aufschwung nicht schaffte, der Familie und den zwei Kindern eine bessere Basis zu schaffen, war groß. Er war ein Taugenichts, der nicht nur andere im Dorf betrogen hatte, sondern auch seinen Kindern ein schlechter Vater war und ihnen die Chance auf eine gute Ausbildung verspielte. Und trotzdem gab ihm meine Mutter zum Abschied wieder ein großes Bündel Ruppees in die Hand.

Ich verstand es anfangs nicht, warum sie das tat. Aber später merkte ich, dass Mutter ihn nur mit ein paar kleinen Scheinen abgespeist hatte. Das echte Geld bekam Sheila in Form von mehreren Goldringen, die sich meine Mutter heimlich von den Fingern abzog und ihrer Schwester in einem günstigen Augenblick zusteckte. Die Ringe waren zwar klein aber doch sehr wertvoll. Und ich bin mir sicher die Goldringe waren damals eine größere Hilfe als ihr Mann es je gewesen war. Doch anders als bei anderen indischen Familien war das Gold bei Sheila kein langfristiger Wertspeicher, sondern musste direkt in Bargeld umgetauscht werden, um das Nötigste zu bezahlen. Das Gold war für die beiden Schwestern das beste Geld, das sie tauschen konnten.

Es war immer Sheila gewesen, die für ihre Familie und die zwei Kinder sorgte, und teilweise mit dem Gold von meiner Mutter heimlich wirtschaftete. Ihr Mann stand ihr dabei nur im Weg, und hinderte die Familie daran aufzusteigen und Vermögen aufzubauen.

Aus Deutschland ist es meiner Mutter auch heute noch immer nicht möglich ihrer Schwester direkt Geld zu schicken. Sheila hat auch jetzt, im Jahr 2021 noch kein eigenes Bankkonto. Geld in Sheilas Hände zu transferieren geht noch immer nur über eine Western Union-Bank, die viel zu hohe Gebühren verlangt und vier Stunden entfernt ist. Für unsere europäischen Verhältnisse ist das zwar unvorstellbar, aber für Millionen von indischen Frauen bittere Realität. Sie haben oft keine Möglichkeit ihr eigenes Geld zu verdienen. Ihr Recht auf Eigentum wird ihnen verwehrt, durch Gatekeeper wie die Banken, den gesellschaftlichen Strukturen, und vor allem den Ehemännern.

Manchmal blicke ich noch immer auf Indien wie aus einem Raumschiff: Ein ferner Planet, der sich wie im Zeitraffer unserem technologischen Zeitalter annähert. Nicht nur meine Liebe zu Star Trek hat mich zu einem technologiegläubigen Menschen gemacht. Ich glaube wirklich, dass Technologie die entscheidende Treppenstufe in einer kulturellen Evolution ist. Ich denke die Verhütungspille hat mehr für die Frauenbewegung getan als einzelne Feministinnen, und die Verbreitung der Klospülung hat wohl mehr für die Hygiene erreicht als mein Großonkel mit seinem Leprakrankenhaus. Ich glaube auch, dass die großen Teile der indischen Gesellschaft, die lange abgehängt waren, es bald schaffen werden an der kommenden gesellschaftlichen Transformation teilzunehmen. Enge Vernetzung und Technologien wie Smartphones werden sie dazu ermächtigen. Indien hat in wenigen Jahren mehrere Technologiestufen übersprungen. Für Milliarden von Menschen ist das Smartphone das erste Telefon, der erste Computer, und die erste Berührung mit dem Internet. Nach China ist Indien der weltgrößte Mobilfunkmarkt. Etwa 760 Millionen Inderinnen und Inder werden nach Schätzungen im kommenden Jahr ein Smartphone besitzen, mit dem sie nicht nur telefonieren, sondern auch spielen, chatten, einkaufen, ins Internet gehen und ihren Zahlungsverkehr abwickeln können.

Auch Sheila wird schon bald ihr eigenes Smartphone besitzen. Bald wird ihr meine Mutter mit irgendeiner Fintech-App Geld schicken können, direkt auf ihr Handy. Und vielleicht kann Sheila dann bald mit ihrem Smartphone ihre Einkäufe bezahlen? Ihr Mann wird dann nicht mehr der einzige sein mit einem Bankkonto. Sie müsste nicht mehr ihre Goldringe irgendwo verstecken, und sie müsste auch nicht mehr stundenlange Wege auf sich nehmen, um überhaupt an Geld zu gelangen.

Ich stelle mir eine Zukunft für Sheila vor, in der sie keiner mehr daran hindern wird, Dinge zu kaufen, die nur für sie selbst sind. Eine Zukunft in der sie nicht über Umwege an ihr Recht auf Eigentum gelangt, sondern auf dem direktesten Weg.

Vielleicht hat Sheila in dieser Zukunft dann eine Wallet die direkt mit ihrem Bewusstsein verbunden ist. Eine Wallet, die direkt in ihrem Hirn sitzt und deren Kontostand kein anderer sehen kann und keiner ausrauben kann. Und mit dieser Wallet hat sie eine Verbindung mit meiner Mutter, die sie weiterhin unterstützen wird. Eine schwesterliche Verbindung durch die, wie durch eine Nabelschnur finanzielle Versorgung fließen kann. Oder ein Wertetransfer, der wie Strom fließen kann. Über Kontinente und Grenzen hinweg. Ganz ohne Mitwisser, ohne Banken, und vor allem ohne ihren Mann.

Das wäre wirklich eine außerirdische Technologie.


Veröffentlicht unter Creative Commons-Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0

Mehr Geschichten vom Geld der Zukunft gibt es ab 23.11.2021 in Magic Future Money. (Un)mögliche Geschichten vom Geld der Zukunft. 376 Seiten, 750 Gramm, Aprycot, 2021.